Die Zahl der Erwerbstätigen im Rentenalter steigt. Das Modell hat Vorteile für Mitarbeiter und Arbeitgeber, wie das Beispiel von Harald Winkel aus Modautal zeigt.
Von Anja Ingelmann
Reporterin Wirtschaft Südhessen
Harald Winkel schaut, ob die Parameter an einer Fräsmaschine richtig eingestellt sind. Drei Tage die Woche ist er bei seinem langjährigen Arbeitgeber, der Adam Ruppel Asbach GmbH, in Modautal als Qualitätsbeauftragter beschäftigt.
(Foto: Joaquim Ferreira)
Jetzt teilen:
Jetzt teilen:
DARMSTADT / MODAUTAL - Wenn es die Kollegen eilig haben, kommt Harald Winkel auch mal kurzfristig vorbei. Ein Anruf, und der 70-Jährige fährt von seinem Wohnort Ernsthofen ins Nachbardorf zu seinem früheren Arbeitgeber. Über 40 Jahre arbeitete Winkel bei der Adam Ruppel Asbach GmbH, als Industriemeister Maschinen- und Gerätebau hatte er mehrere leitende Positionen inne. Zuletzt war er Qualitätsbeauftragter. Am 1. Februar 2012 hätte er eigentlich den Ruhestand antreten sollen, doch sein Chef fragte ihn, ob er dem Unternehmen nicht noch eine Weile zur Verfügung stehen könne – zumindest, bis ein Nachfolger gefunden sei.
Den Nachfolger gibt es bis heute nicht, viele Aufgaben in der Qualitätskontrolle bei der Herstellung von Mess- und Prüfwerkzeugen und Präzisionsteilen für den Maschinenbau wurden im Haus verteilt. Aber Winkel ist mit seinem Wissen und seiner Genauigkeit nach wie vor als Unterstützung gefragt. An drei Tagen die Woche arbeitet er auf 450-Euro-Basis weiterhin bei Ruppel, prüft Werkzeuge und Bauteile und nimmt als Sicherheitsbeauftragter die vorgeschriebenen Unterweisungen für die Mitarbeiter vor. An Ruhestand denkt er nicht. „Die Arbeit erfüllt mich. Die Gespräche mit den Mitarbeitern, die Anerkennung – das gefällt mir“, sagt er und lächelt.
Winkel ist kein Mann vieler Worte, lässt lieber Taten sprechen. „Herr Winkel hat technische Entwicklungen vorangetrieben und unser Unternehmen durch seinen positiven Führungsstil maßgeblich geprägt“, lobt sein Chef, Fertigungsleiter André Ruppel. Damit sei er trotz seines Alters ein Gewinn für den Betrieb, vielleicht sogar gerade deswegen. Denn auf diese Weise profitieren die jüngeren Kollegen weiterhin von seiner Erfahrung.
NICHT NUR DES GELDES WEGEN
Das Geldverdienen ist nicht der wichtigste Grund für eine Erwerbstätigkeit im Rentenalter. Nach einer Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) sind vor allem soziale und persönliche Motive ausschlaggebend. Rund 90 Prozent der Rentner haben Spaß an der Arbeit, brauchen den Kontakt zu anderen Menschen oder wünschen sich weiterhin eine Aufgabe.
Dennoch nennt mehr als die Hälfte der Befragten finanzielle Gründe. Dies gilt vor allem für Frauen, die eigenen Angaben zufolge häufiger als Männer auf einen zusätzlichen Verdienst zur Altersrente angewiesen sind.
Eine Beschäftigung bis zum Renteneintritt erhöht laut Studie die Wahrscheinlichkeit, auch anschließend noch erwerbstätig zu sein. (ain)
Wissenschaftler fordern Politik und Betriebe auf, flexible Regelungen die Rahmenbedingungen zu schaffen
Winkel ist kein Einzelfall. Nach Angaben des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) ist in Deutschland weit mehr als ein Viertel aller Rentner in den ersten drei Jahren nach dem Übergang in die Altersrente erwerbstätig. Die Zahl nimmt stetig zu – bundesweit, aber auch im Regierungsbezirk Darmstadt. So waren nach Angaben der Arbeitsagentur 2016 202 540 (Darmstadt: 9869) sozialpflichtig Beschäftigte über der Regelaltersgrenze, 2017 waren es 224 312 (11 066) und 2018 bereits 246 350 (11 872). Der Trend zeigt sich auch bei den geringfügigen Tätigkeiten: 2016 zählte die Arbeitsagentur 920 113 (42 033) Beschäftigte über der Regelaltersgrenze, 2017 waren es 972 220 (43 420) und 2018 über eine Million (45 156). Das Geldverdienen ist für die Rentner dabei nicht immer der wichtigste Grund (dazu der Infokasten).
André Ruppel, dessen Unternehmen insgesamt 100 Mitarbeiter beschäftigt, nutzt das Modell auch als Mittel gegen den Fachkräftemangel. Man bilde aus und fördere die Fortbildung von Mitarbeitern, aber für so viel Erfahrung sei es schwer, Ersatz zu finden. Die Aufgaben in der Qualitätskontrolle hat man verteilt, für das Thema Arbeitssicherheit müsse man aber wohl externe Hilfe in Anspruch nehmen, sollte sich der 70-Jährige tatsächlich in den Ruhestand verabschieden.
Auch die Industrie- und Handelskammer (IHK) Darmstadt sieht die Chancen von Rentnern im Betrieb, heißt es. Man könne Wissen im Unternehmen halten und weitergeben oder kurzfristige Engpässe ausgleichen. Als strategisches Instrument in der Fachkräfteentwicklung sehe man das Beschäftigungsmodell aber nicht. Als Grund für die steigenden Zahlen nennt die IHK an erster Stelle die gute Konjunktur. Geht es nach den Wünschen der Senioren, hätten wohl noch mehr einen Job. Laut einer Studie des IAB würden selbst unter nicht erwerbstätigen Rentnern 13 Prozent der Frauen und 20 Prozent der Männer gerne eine Arbeit aufnehmen. Die Wissenschaftler fordern Politik und Betriebe deshalb auf, mit flexiblen Regelungen die Rahmenbedingungen dafür zu schaffen.
Vielleicht hat sich das aber in einigen Jahren erledigt. Politiker wie Jens Spahn (CDU) haben angekündigt, das Renteneintrittsalter von 67 Jahren ab 2030 weiter anheben zu wollen – womit viele Rentner von heute dann Mitarbeiter wären.