Die fünf Baustellen des Nahverkehrs

Die Ampel-Koalition will ein neues bundesweit gültiges Nahverkehrsticket schaffen.

Unzuverlässige Züge, überfüllte Busse und schlechte Verbindungen rauben den Fahrgästen die Nerven. Was muss geschehen, um den Nahverkehr attraktiver zu machen?

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Frankfurt. Verspätungen und Ausfälle, komplizierte Tarife, veraltete Bahnhöfe und Haltestellen sowie ein Angebot mit vielen Lücken in ländlichen Regionen. Der öffentliche Nahverkehr ist derzeit nicht besonders einladend. Dabei können die Klimaziele nur erreicht werden, wenn mehr Menschen auf Bus und Bahn umsteigen. Was sind die fünf größten Baustellen im Nahverkehr?

Baustelle 1: Undurchschaubare Ticketpreise

Der RMV rechnet mit Engpässen durch das 9-Euro-Ticket.
Der RMV rechnet mit Engpässen durch das 9-Euro-Ticket. (© Arne Dedert/dpa)

Wer ein Ticket für den Nahverkehr lösen will, steht angesichts des historisch gewachsenen Tarifdickichts oft vor einem Rätsel. Das für April 2023 geplante 49-Euro-Ticket kann die Hürden für den Einstieg auf einen Schlag beseitigen: Dann gilt eine Fahrkarte für alle Busse, Straßenbahnen, S-Bahnen und Regionalzüge in ganz Deutschland. Der Fahrgastverband Pro Bahn begrüßt das neue Ticket, da damit zum ersten Mal überhaupt eine dauerhaft gültige bundesweite Fahrkarte für den gesamten Nahverkehr geschaffen wird. Die dadurch entstehenden Einnahmeausfälle dürften aber nicht auf Kosten der Verkehrsunternehmen und Verbünde gehen, da sonst das Nahverkehrsangebot zwangsläufig eingeschränkt werden müsste. „Das 9-Euro-Ticket im Sommer 2022 hat gezeigt, welche Fahrgastpotenziale wir erschließen können, aber auch wie knapp unsere aktuellen Kapazitäten sind. Für eine erfolgreiche Mobilitätswende braucht es mehr als nur günstige Ticketpreise“, betont RMV-Geschäftsführer Knut Ringat.

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Das 49-Euro-Ticket wird aber nicht alle Probleme lösen. Für den Rhein-Main-Verkehrsverbund (RMV) ist noch offen, wie sich das Preissystem mit Jahreskarten und Rabatten entwickelt. Auf jeden Fall setzt der RMV weiter auf die Einführung eines smarten Tarifsystems, bei dem Fahrten per Handy abgerechnet werden. „Einsteigen und losfahren” sei insbesondere für Fahrgäste interessant, die nur selten fahren und für die ein 49-Euro-Ticket nicht interessant ist.

Baustelle 2: Lückenhaftes Schienennetz

Mehr als 3000 Kilometer stillgelegte Bahnstrecken lassen sich aus Sicht von Verkehrsverbänden ohne allzu großen Aufwand reaktivieren. Das würde zahlreiche Lücken im deutschen Schienennetz schließen.
Mehr als 3000 Kilometer stillgelegte Bahnstrecken lassen sich aus Sicht von Verkehrsverbänden ohne allzu großen Aufwand reaktivieren. Das würde zahlreiche Lücken im deutschen Schienennetz schließen. (© Symbolbild: Marijan Murat/dpa )

Das deutsche Schienennetz ist seit dem Bahnreformjahr 1994 von 44.600 Kilometer auf heute etwa 38.400, davon 33.400 Kilometer der Deutschen Bahn, geschrumpft, wie der Geschäftsführer des Verkehrsausschusses im Verband der chemischen Industrie, Jörg Roth, in Frankfurt kritisiert. In diesem Jahr seien gerade einmal 70 Kilometer neue Gleise in Deutschland gebaut worden. „Das ist viel zu wenig.“ Roth fordert wie viele andere Experten eine Entmischung des Güter-, Regional- und Fernverkehrs auf dem Schienennetz, damit sie sich nicht gegenseitig ausbremsen.

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Das Problem ist bekannt, aber Planung, Genehmigung und Bau neuer Infrastruktur ziehen sich hin. Der verbundweite Nahverkehrsplan für Frankfurt Rhein-Main listet von der Regionaltangente West über den S-Bahn-Ausbau Frankfurt-Bad Vilbel-Friedberg bis zur Wallauer Spange zahlreiche Projekte auf. Und als Vision wird ein Fernbahntunnel in Frankfurt genannt. Aber das dauert. Dabei zeigt die Odenwaldbahn, wie erfolgreich schnelle Verbindungen sein können. Nach der umfassenden Ertüchtigung der Strecke vor 17 Jahren sind die Fahrgastzahlen um mehr als 50 Prozent gestiegen.

Um das zu ändern, schlage ich vor, ein Staatsziel Infrastruktur in unsere Verfassung aufzunehmen

VW
Volker Wissing Bundesverkehrsminister

Die Zeit von zwölf Jahren für die Inbetriebnahme einer vier Kilometer langen neuen Bahnstrecke wie im Fall der Wallauer Spange machen deutlich, dass die Verfahren massiv verkürzt werden müssen, wenn die Verkehrswende in einer vertretbaren Zeit umgesetzt werden soll. „Bei Güterabwägungen haben Infrastruktur-Ausbauinteressen zu oft das Nachsehen. Um das zu ändern, schlage ich vor, ein Staatsziel Infrastruktur in unsere Verfassung aufzunehmen“, sagt Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP). „Wir müssen schneller planen, schneller prüfen, schneller bauen.”

Baustelle 3: Marode Infrastruktur

Regennasse Schienen unter einem imposanten Wolkenhimmel.
Regennasse Schienen unter einem imposanten Wolkenhimmel. (© dpa)

Der Finanzbedarf für die überfällige Modernisierung der maroden und damit störungsanfälligen Infrastruktur vom Bahnhof über Technik bis zum Schienennetz summiert sich auf Milliarden. Da ist der im Zuge der 49-Euro-Ticket-Debatte von Bund und Ländern vereinbarte Ausbau- und Modernisierungspakt ein Schritt in die richtige Richtung. „Es ist ein Meilenstein, dass der Bund schon ab dem Jahr 2022 zusätzliche Regionalisierungsmittel in Höhe von einer Milliarde Euro jährlich zur Verfügung stellen will und dass die Mittel jährlich um drei Prozent erhöht werden sollen“, berichtet der Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) in Berlin.

Dem Bund obliegt nach Artikel 87e Abs. 4 Grundgesetz die Verantwortung für Ausbau und Erhaltung des Schienennetzes der Eisenbahninfrastrukturunternehmen des Bundes (DB Netz AG, DB Station&Service AG, DB Energie GmbH), die Eigentümer der Schieneninfrastruktur sind. Der Investitionsstau ist gewaltig. Eisenbahnbrücken, Stellwerke, Weichen, Leit- und Sicherungstechnik sowie Fahrleitungen müssen modernisiert werden. Bis zum Jahr 2025 sollen 70 Prozent des Schienennetzes elektrifiziert werden.

Baustelle 4: Fehlendes Personal

Einen ebenso anspruchsvollen wie aussichtsreichen Arbeitsplatz bietet das Cockpit der Itino-Triebwagen auf der Odenwaldbahn, zu deren Steuerleuten Werner Götzinger gehört.
Einen ebenso anspruchsvollen wie aussichtsreichen Arbeitsplatz bietet das Cockpit der Itino-Triebwagen auf der Odenwaldbahn. (© Sascha Lotz)

Der Personalmangel bremst den Nahverkehr. Meldungen nach dem Muster „die S-Bahn-Linien S1, S2, S3, S4, S5, S6, S7, S8 und S9 fahren nur im 30-Minuten-Takt“ häufen sich. In zentralen Stellwerken wie Mainz-Bischofsheim ziehen Krankheitsfälle weite Kreise im Netz. „Der DB-Vorstand muss sich eingestehen: Wir haben nicht genug Leute“, betont die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG). Es werde eingestellt: Auszubildende und Quereinsteiger. Aber viele gingen schnell wieder. Die Folgen: Überlastung der Beschäftigten, ein wachsender Berg an Überstunden, hoher Krankenstand, Frust überall. „Die Qualität im Bahnbetrieb wird immer schlechter. Darunter leiden nicht nur die Kunden, sondern auch die Eisenbahner selbst.“

„Wie bei nahezu allen Unternehmen ist auch der Krankenstand bei unseren Mitarbeitenden aktuell hoch, was regional zu Einschränkungen im Zugverkehr führen kann“, bestätigt eine Bahnsprecherin in Frankfurt. Bei den Beschäftigten in den Zügen und Stellwerken handele es sich um spezialisierte Fachkräfte, die kurzfristig schwer ersetzbar sind. So müssten Fahrdienstleiter für die jeweilige Stellwerkstechnik und Region ausgebildet sein.

Die Bahn setzt auf Aus- und Weiterbildung, Qualifizierung von Quereinsteigern sowie Neueinstellungen. „Wie kaum ein anderes Unternehmen hat die Deutsche Bahn auch in Corona-Zeiten ihre Einstellungsoffensive fortgesetzt.“ Allein in Hessen seien seit 2021 rund 4200, in Rheinland-Pfalz und Saarland 800 neue Kollegen bei der Deutschen Bahn an Bord. Die DB kommt auch gezielt in die Region, um Interessierte persönlich anzusprechen. Außerdem wurde in diesem Herbst am Frankfurter Hauptbahnhof mit der Agentur für Arbeit die DB-Jobwelt eröffnet. DB Regio Mitte beschäftigt in Rheinland-Pfalz, im Saarland, im nordwestlichen Teil von Baden-Württemberg und Hessen insgesamt rund 4000 Mitarbeitende.

Baustelle 5: Unzureichende Digitalisierung

Ohne Umsteigen von A nach B: Auf „direkt.bahn.guru“ lassen sich schnell Direktverbindungen im Bahnfernverkehr von Deutschland und Europa aufspüren, die man noch nicht kannte.
Ohne Umsteigen von A nach B: Auf „direkt.bahn.guru“ lassen sich schnell Direktverbindungen im Bahnfernverkehr von Deutschland und Europa aufspüren, die man noch nicht kannte. (© Christin Klose/dpa-tmn)

Die Bahn soll das attraktive Verkehrsmittel des digitalen Zeitalters werden, verspricht das Bundesverkehrsministerium. „Zugang zu Mobilfunk- und Internetverbindungen ist dafür eine Grundvoraussetzung, aber noch nicht Standard auf der Schiene“, heißt es. Doch Digitalisierung soll sich nicht darauf beschränken. Ein von der Deutschen Bahn entwickeltes System soll beispielsweise den S-Bahn-Verkehr auch im Rhein-Main-Gebiet vorausschauender steuern, um Verspätungen und Stau auf viel befahrenen Strecken zu vermeiden. Weitere Einsatzmöglichkeiten reichen von der Digitalisierung der Instandhaltung bis zur Beschleunigung von Baumaßnahmen und der Information von Fahrgästen.