Wenn man hört, mit welchen Fachbegriffen sich Wael Shueb in seiner Ausbildung zum Sport- und Fitnesskaufmann auseinandersetzen muss, stellt sich fast die Frage nach der...
EPPERTSHAUSEN. Wenn man hört, mit welchen Fachbegriffen sich Wael Shueb in seiner Ausbildung zum Sport- und Fitnesskaufmann auseinandersetzen muss, stellt sich fast die Frage nach der größeren Herausforderung: der Abschluss seiner Ausbildung, die der 31-jährige Syrer in der Eppertshäuser „Fitness Fabrik“ von Prinz Michael von Anhalt (Michael Killer aus Groß-Zimmern) absolviert – oder die Teilnahme an den Olympischen Spielen 2020 in Tokio (24. Juli bis 9. August). Mehr Glanz versprechen fraglos die Sommerspiele, an denen er im Flüchtlingsteam des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) in der Karate-Disziplin Kata (Formenlauf) teilnehmen wird. Mit konsequentem Ehrgeiz, finanzieller Förderung privater Sponsoren, des IOC und des nationalen Verbands sowie mit einem neuen Trainer geht Shueb auf die lange Zielgerade gen Olympia in Fernost. Daneben coacht er weiter Kinder und Jugendliche des GKV Lotus Eppertshausen, dessen Mitglied er ist.
2015 floh der aus Damaskus stammende Kampfsportler, der vor dem Bürgerkrieg der syrischen Nationalmannschaft angehörte, nach Deutschland und fand seine neue Heimat in Eppertshausen. Unterstützt besonders von Prinz Michael, aber auch Erko Kalac, dem Vorsitzenden des vielfach für seine Integrationsarbeit ausgezeichneten Eppertshäuser Gesundheits- und Kampfsportvereins, bekam Shueb nicht nur beruflich und privat beste Möglichkeiten für einen Neuanfang. Er erhielt auch die sportliche Chance seines Lebens: Dank seiner neuen Freunde – Kalac kam einst selbst als Flüchtling nach Deutschland und konnte sich besonders gut in Shuebs Lage hineinversetzen – und seines karatetechnischen Könnens flatterte im Frühjahr 2018 die große Nachricht nach Eppertshausen: Shueb wurde fest für das „Refugee Olympic Team“ 2020 nominiert und war damit früher als die meisten anderen Sportler sicher für die Spiele im Karate-Mutterland Japan qualifiziert.
Seither trainiert er wie besessen für den großen Auftritt, für die fünf, sechs Katas à zwei bis drei Minuten, die er in Fernost voraussichtlich präsentieren darf. „Wael wird Olympiasieger“, ist sich Prinz Michael sogar sicher. Doch bevor an den Olymp nur ansatzweise zu denken ist, stehen noch hunderte schweißtreibende Einheiten an. Auf die bereitet sich Shueb seit wenigen Monaten mit seinem neuen Coach Mohammed Abu Wahib vor. „Er ist momentan einer der besten Trainer in Deutschland und seine Athleten stehen am Ende immer auf der Treppe“, sagt der Olympia-Teilnehmer. Shueb spricht inzwischen fast perfekt Deutsch und führt das Interview mit dieser Zeitung im Gegensatz zu den ersten Unterhaltungen Anfang 2018 allein und ohne jede Übersetzungshilfe.
Zwei- bis dreimal pro Woche trainiert Shueb in Wahibs Dojo in Höchst im Odenwald. Das normale Training besteht ansonsten aus zwei Einheiten pro Tag. Technik wie auch Kraft und Ausdauer. Von Fachleuten hat sich Shueb bei seinen Katas filmen lassen, „alle sagen, dass ich technisch schon sehr gut bin und mit den Besten mithalten kann“. Was noch etwas fehle, sei die Dynamik in der Ausführung. Damit die Formenläufe noch kraftvoller und explosiver wirken, schnallt sich der Neu-Eppertshäuser zum Üben Gewichte und Gummibänder um die Hüfte, ackert für jedes noch so kleine Detail akribisch. Bei Wettkämpfen erhielt er weiteres Feedback, wurde 2019 etwa Fünfter der deutschen Meisterschaften. Im Frühjahr stehen noch einige Premier-League-Auftritte als hochkarätige Generalprobe an.
All das bewältigt Wael Shueb nicht als Profi, sondern neben seinem Engagement für den Nachwuchs des GKV Lotus und seiner Arbeit im Fitnessstudio. Dort hat er seit einem halben Jahr immerhin die Stundenzahl etwas reduzieren können. Ganz unterbrechen will der 31-Jährige die Ausbildung selbst für seinen Traum von olympischem Edelmetall nicht: „Michael hat mir mit dieser Ausbildung eine Chance gegeben, die ich nutzen will“, betont Shueb. Von den baldigen Prüfungen sollen ihn im theoretischen Teil auch die gewöhnungsbedürftigen Fachtermini nicht abhalten können. Welcher Begriff ihm derzeit am meisten Kopfzerbrechen bereite? Aus Wael Shueb kommt es etwas stockend, dann aber doch an einem Stück heraus: „Äquivalenzziffernkalkulation.“