Samstag,
16.01.2021 - 00:00
4 min
Rolle rückwärts vor dem Laptop

Von Udo Döring
Sportredakteur

Isabell Lachnit (Foto: Turngau)
SÜDHESSEN - Die Felge am Reck, der Salto auf dem Trampolin, die Kürübung mit Keule oder Band? Da stößt selbst das kreativste Online-Modell an seine Grenzen. Das Wohnzimmer hat nun mal keinen Federboden, im Jugendzimmer steht kein Schwebebalken und der Garten hat selten die Größe für eine Bodenübung.
„Wenn die Athleten mehrere Wochen oder gar Monate nicht an die Geräte können, dann merkt man das schon. Deshalb ist es gerade für die Gerät- und Trampolinturner besonders hart, wenn die Hallen geschlossen sind“, erklärt Uwe Grimm als Vizepräsident Leistungssport im Hessischen Turn Verband (HTV). Ein Problem, das mit steigendem Leistungsniveau und Komplexität der Übungen immer größer wird.
Das aber auch schon bei den Kleinsten seine Wirkung zeigt. „Meine Kinder sind in dem Alter, in dem sie anfangen, Flick-Flacks und Überschläge zu erlernen. Das ist mit keinem Online-Training zu ersetzen“, erklärt Isabell Lachnit als Jugendleiterin im Turngau Main-Rhein und bringt als Trainerin der SG Weiterstadt noch die psychische Komponente ins Spiel: „Kinder möchten in die Halle, Freunde treffen, sich miteinander messen und Dinge erlernen.“
Gemeinsam freut es sich eben besser als alleine vor dem Laptop – ob über den ersten gelungenen Purzelbaum oder den gesteigerten Schwierigkeitsgrad am Seitpferd.
Als Turngau-Vorsitzender sieht Friedel Richter (Rüsselsheim) zwar noch keine dramatische Breitenwirkung der Pandemie: „Nach neusten Erhebungen zur Fluktuation sind die Abgänge in den Vereinen im normalen Maß, jedoch fehlen die üblichen Zugänge, so dass ein Mitglieder-Rückgang zu verzeichnen ist.“ In der Spitze hat Corona aber schon sichtbaren Schaden angerichtet. „Wir sind froh, dass wir viele Sportler hatten, die nach dem ersten Lockdown durch die lange Abstinenz noch motivierter zurückkamen“, erklärt Uwe Grimm: „Es gab allerdings Athleten, die sich in dieser Zeit anderen Aktivitäten bzw. anderen Sportarten zugewandt und damit dem Turnen den Rücken gekehrt haben.“ Vor allem die zweite Welle hat die Abkehr vom Leistungssport verstärkt, auch bei Kaderathleten, die eigentlich das Privileg der Trainingserlaubnis genießen.
DIE GUTE IDEE: HANDSTAND-TÜV UND GEBACKENE TURNHALLE
So vielfältig wie die Disziplinen, so hoch ist auch die Kreativität der vielen Turnvereine und ihrer Mitglieder. Wie in anderen Sportarten auch wurde natürlich versucht, vor allem die jungen Sportler auf digitalem Weg mit gemeinsamen Trainingseinheiten und Challenges bei Laune zu halten. Der Hessische Turnverband hat zudem mit mehreren Aktionen für ein bisschen Wettkampfgefühl gesorgt.
Echte Pionierarbeit gab es dabei auf der Internet-Plattform Sportdata. Nach der erfolgreichen Premiere der „Hessen Open“ für Trampolinturner (wir berichteten) folgte die Advents-Challenge im Rope-Skipping. Über 300 Teilnehmer sendeten ihre Videos in zwei Disziplinen ein. Der TSV Höchst stellte die meisten Teilnehmer und mit Lilly und Moritz Kumpf auch zwei Gesamtsieger, ein weiterer Sieg ging an Jonas Bauch vom TV Nieder-Beerbach.
Auch beim Handstand-TÜV können Videos eingeschickt werden. Bis 10. Februar kann jeder zeigen, ob er auf Händen mindestens drei Sekunden stehen, drei Schritte laufen und eine halbe Drehung schaffen kann. Im Online-Angebot war auch das Kinderturnabzeichen@Home.
Eine besondere Herausforderung war der Wettbewerb „Back dir deine Turnhalle“. Die besten der kalorienreichen Höchstleistungen wurden nach Online-Abstimmung mit Gutscheinen belohnt. (red)
Echte Pionierarbeit gab es dabei auf der Internet-Plattform Sportdata. Nach der erfolgreichen Premiere der „Hessen Open“ für Trampolinturner (wir berichteten) folgte die Advents-Challenge im Rope-Skipping. Über 300 Teilnehmer sendeten ihre Videos in zwei Disziplinen ein. Der TSV Höchst stellte die meisten Teilnehmer und mit Lilly und Moritz Kumpf auch zwei Gesamtsieger, ein weiterer Sieg ging an Jonas Bauch vom TV Nieder-Beerbach.
Auch beim Handstand-TÜV können Videos eingeschickt werden. Bis 10. Februar kann jeder zeigen, ob er auf Händen mindestens drei Sekunden stehen, drei Schritte laufen und eine halbe Drehung schaffen kann. Im Online-Angebot war auch das Kinderturnabzeichen@Home.
Eine besondere Herausforderung war der Wettbewerb „Back dir deine Turnhalle“. Die besten der kalorienreichen Höchstleistungen wurden nach Online-Abstimmung mit Gutscheinen belohnt. (red)
„Wenn Gymnastinnen, die sich nicht sicher waren, ob sie weitermachen sollen, nun festgestellt haben, dass ihnen nichts fehlt, kann Corona eine Entscheidung gegen die bislang geliebte Sportart beschleunigen“, befürchtet Astrid Hock-Breitwieser als zweite Vorsitzende des Turngaus Odenwald.
Auch manche positive Strömung an der Basis wurde jäh gestoppt. „Nach dem ersten Lockdown hatten wir einen Riesenansturm bei den RG Schülern. Alle Eltern und Kinder waren froh und dankbar, dass irgendetwas ging“, erzählt Andrea Fenn von einem Boom bei den Gymnastinnen des TV Dieburg. Das kurze Stück zurück zur Normalität und in die Trainingshalle forderte durch die Hygieneregeln viel Disziplin und Organisation – und förderte wiederum die Kreativität der Betreuer. So gab es Freilufttraining auf dem Sportplatz, wo junge und auch ältere Turnerinnen erstmals ihr Sportabzeichen ablegten.
„Es ist unglaublich, was auch die Eltern dabei geleistet haben. Viele Turngeräte wurden angeschafft oder gebaut, Wohnzimmer für das Hometraining in kleine Turnhallen umgeräumt,“ sagt Uwe Grimm. Wie in fast allen Sportarten fanden Trainer und Turner fast nur noch auf digitalem Weg zueinander. Beim Training, beim geselligen Austausch, bei der Fortbildung. „Seit der ersten Corona-Welle wurde verstärkt auf E-Learning gesetzt, dies wird in Zukunft unabhängig von Corona weiter ausgebaut“, sieht Friedel Richter eine andere Langzeitfolge der Krise.
Auf dezentralem Weg fanden die Turner zudem neue Wettkampfformen. Die Rope-Skipper riefen eine Advents-Challenge aus, nachdem die Trampoliner mit den „Hessen Open“ für eine Premiere gesorgt hatten, bei der eingesandte Videos von Kampfrichtern bewertet wurden. Dabei sind die gerade bei den Jüngsten beliebten digitalen Wettbewerbe noch mehr Stimmungsmacher als Wettkampfersatz. Zumal es etwa für eine Trampolinübung eine Sporthalle braucht, die nicht verschlossen oder zum Impfzentrum umgebaut ist.
„Neben Kraft- und Beweglichkeitstraining ist ein Basistraining der Geräte- und Körpertechniken im Hometraining noch möglich, aber selbst das bereitet bei Handgeräten, die für die Bewegungen viel Platz brauchen, schon große Schwierigkeiten“, erklärt Bettina Reinhardt als beim TV Ober-Ramstadt und auch bundesweit aktive Funktionärin für die Rhythmische Sportgymnastik: „Techniken, die mit hohen Würfen verbunden sind, und für die man hohe Wiederholungszahlen zum Beherrschen benötigt, sind gar nicht möglich.“
Gemeinsam ist allen Verantwortlichen die Sorge, ja die Sicherheit, dass die Pandemie Langzeitwirkungen haben wird. Auf die Zahl der ambitionierten Turner und deren Leistungsvermögen. Die Schilderung von Mirko Bott als Trampolintrainer beim TV Büttelborn und langjährigem Turngau-Fachwart steht stellvertretend für alle Turndisziplinen: „Seit März findet praktisch kein Training mehr statt. Letztendlich verlieren wir aber 15 bis 18 Monate. Gerade die Jüngeren können nicht einfach wieder dort einsteigen, wo das Training im März endete – hier müssen wir im Training auf dem Stand vom späten Herbst ansetzen, damit die grundlegenden Bewegungsabläufe und Techniken wieder gefestigt werden können.“
Nicht nur die Kinder gehen dem Sport verloren. Denn wie Bott hat auch Isabell Lachnit festgestellt: „Die Bindung der ehrenamtlichen Helfer an die Vereine nimmt ab. Die neue Freizeit zeigt auf privater Ebene auch Vorteile und es besteht die Gefahr, dass die Helfer und Trainer dem Verein in der Zukunft fehlen werden.“ Zumal Aufwand und Zusatzenergie, die etwa für Kindertraining unter Einhaltung aller Abstandsregeln eingesetzt wurden, am Ende den Stillstand nicht verhindern konnten. Bei allem Verständnis reift auch ehrenamtlicher Frust.
Der sich aber schnell in positive Energie umwandeln kann, wenn statt im Wohnzimmer wieder in der Sporthalle geturnt werden kann. Denn nicht nur Friedel Richter weiß: „Turner und Turnerinnen sind ja grundsätzlich pragmatisch, jedoch setzt uns Corona als vorwiegende Hallensportart doch sehr enge Grenzen.“