Verwunschene Berge, so heißen die Albanischen Alpen bei den Einheimischen. Ein Fernwanderweg führt durch das weltabgeschiedene Grenzgebirge Montenegros, Albaniens und des Kosovo.
. Ein samtweißer Wolkenstreifen liegt am frühen Morgen über den verstreuten Häuschen von Vusanje. Als habe bei Nacht eine riesige Hand eine Grenzlinie gezogen – zwischen den Menschen da unten und der abgeschiedenen Bergwelt da oben.
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Roze Rupa hat im Morgengrauen ihren roten Wanderrucksack vollgepackt. Ihr Ziel sind die Gipfel weit über dem Wolkenband jenseits von Montenegro. Die 39-jährige Wanderführerin hat die Grenze zu ihrer Heimat Albanien unzählige Male überquert – auf stillen Bergpfaden, auf denen einst allein das Militär patrouillierte.
Prokletije nennen die Montenegriner und Albaner das schroffe Gebirgsmassiv, das an ihrer Grenze aufragt. „Auf Deutsch bedeutet das ‚Verwunschene Berge‘“, erklärt Roze. Oft findet man auch die Bezeichnung Albanische Alpen. „Früher gehörte das ganze Gebirge zu Albanien“, sagt Roze, „noch vor dem Ersten Weltkrieg fiel der Nordteil aber an Montenegro.“
Jetzt, in Pandemiezeiten, gibt es keinen schöneren Sehnsuchtsort für fernwehgeplagte Wanderer als die wilden Wälder und entrückten Gipfel der verwunschenen Berge.
In Vusanje in Montenegro zeigt sich das Prokletije den Wanderern zunächst von seiner lieblichen Seite. Durch das Bergdorf strömt ein glucksender Gebirgsfluss. Entlang seiner Ufer spielen Schmetterlinge Räuber und Gendarm. Je weiter Roze mit ihrer kleinen Wandergruppe durch den Wald in Richtung der albanischen Grenze kommt, umso näher rücken die Felswände an den Pfad. Die wildgezackte Silhouette des Karanfil-Massivs überragt das Tal. Seine spitzen Felstürme bilden wohl das dramatischste Panorama des Prokletije-Nationalparks. Zwar ragen die Albanischen Alpen mit dem Jezerca als höchstem Berg nur 2694 Meter hoch, müssen sich aufgrund ihrer tiefen Trogtäler und spektakulären Gipfellandschaften aber nicht vor anderen europäischen Hochgebirgen verstecken.
In Sachen Wildheit stellen sie die Alpen ohnehin in den Schatten: Das Prokletije ist nur äußerst dünn besiedelt und die Natur blieb bis heute meist sich selbst überlassen. Gleich vier Nationalparks und ein Unesco-Weltnaturerbe-Reservat durchquert der Dreiländer-Wanderweg „Peaks of the Balkans“ durch Montenegro, Albanien und den Kosovo. Die gesamte Runde umfasst zehn Tagesetappen, kann jedoch durch zahlreiche Varianten abgekürzt oder erweitert werden.
Noch vor 30 Jahren war es den Menschen unmöglich, auf den uralten Schäferpfaden ins Nachbarland zu gelangen. Vor dem Zusammenbruch des Kommunismus war Albanien hermetisch abgeriegelt und vollkommen verarmt – das Nordkorea Europas. Bis im letzten Jahr zog der 192 Kilometer lange Fernwanderweg über die Grenzen eine wachsende Zahl an Touristen an – vor allem aus den deutschsprachigen Ländern. Wann der Wanderweg in diesem Sommer wieder öffnet und wie dann die Formalitäten ausfallen, ist derzeit noch nicht klar.
Der Grenzübergang nach Albanien könnte kaum unscheinbarer sein. Roze deutet auf eine einfache Steinpyramide oberhalb eines kristallklaren Bergsees. Die meisten Wanderer übersehen die Markierung. Weiter oben im Tal, kurz vor dem Peja-Pass, erinnern zwei verlassene Militärbunker mit Betonkuppel daran, dass diese Grenze einst unpassierbar war. „Kein Mensch wäre in der Zeit des Kommunismus darauf gekommen, hier oben zu wandern“, sagt Roze. Vom Pass blickt sie über die von Schneeresten gesprenkelten Zweitausender beiderseits der Grenze.
„Als wir am Anfang mit der Idee eines Fernwanderwegs kamen, haben die Leute nicht geglaubt, dass das jemals funktionieren wird“, sagt Roze. „Wir Albaner denken bei Urlaub an Strand und Meer. Wandern im Gebirge – das schien eine komische Idee.“ 2006 begann die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ), erste Wanderwege in der Region um das Bergdorf Theth zu planen. Die Idee war geboren, der zunehmenden Abwanderung aus der entlegenen Bergregion ein grenzüberschreitendes Tourismus-Projekt entgegenzusetzen. Es sollte gleichzeitig die drei Balkanländer einander näher bringen. Roze war zu dieser Zeit Tourismus-Studentin in Shkodra. Sie glaubte von Anfang an an das Potential ihrer Heimatregion und setzte sich für den Wanderweg ein, markierte weit entfernte Pfade und führte die ersten Touristen über die Grenzen.
Ein Teil der alten Bauernhäuser wurden inzwischen restauriert, etliche Neubauten sind dazugekommen. „2005 gab es ein einziges Gästehaus“, sagt Roze, „heute sind es 35.“ Die alte Kirche des traditionell katholischen Dorfs hat längst wieder ein Kreuz auf ihrem Turm. In der Zeit nach 1967, als sich Albanien unter dem kommunistischen Diktator Enver Hoxha als „ersten atheistischen Staat der Welt“ rühmte, diente sie als Lagerhalle und Krankenstation.
Valbona und Theth sind fast die einzigen Orte auf dem Peaks of the Balkans-Wanderweg, die auch Tagesausflügler anlocken. Auf den anderen Abschnitten begegnet man nur selten einem Menschen.
Eine Tagesetappe weiter, oberhalb des Gashi-Tals, fühlt sich der Wanderer den alten Legenden plötzlich ganz nah. Hier in Albaniens wildesten Bergwäldern werden die Geschichten lebendig, denen das verwunschene Gebirge seinen Namen verdankt. Im Nebel blicken einen die düsteren Asthöhlen der Schlangenhaut-Kiefern wie weit aufgerissene Riesenaugen an. Ihre verschlungenen Wurzeln verflechten sich zu versteinerten Natternnestern.
Bären, Wölfe und Luchse sind hier noch immer zu Hause. „Nur zu sehen bekommt man sie nie“, sagt Roze. Menschen gehen sie aus dem Weg. Gefährlich werden zumindest die Wölfe aber den Schafherden. Im Almdorf Dobërdol, das nur im Sommer bewohnt ist, kündigt das wilde Gebell der Hütehunde bei Nacht manchmal die sich in der Dunkelheit nähernden Räuber an.
Jenseits des Bergkamms hinter Dobërdol erinnert eine mit Plastikblumen geschmückte Gedenktafel am Wegrand mit den Porträts von drei 1998 gefallenen UÇK-Kämpfern daran, dass man die Grenze zum Kosovo bereits überschritten hat. Die Albanischen Alpen waren blutiger Schauplatz des Kosovokriegs um die Unabhängigkeit des Landes. Im Bergdorf Roshkodol wird erneut sichtbar, wie der Wanderweg in den letzten Jahren für Aufschwung in der Region sorgte. Überall wurde neu gebaut – hier im Kosovo sind es meist Holzhäuschen.
In einer Blockhütte am Rand des Waldes bei Milishevc legt Zeki Ahmetgjekaj Holzscheite auf das Feuer seines Ofens. „Während des Krieges mussten alle hier das Land verlassen“, erzählt er. „Inzwischen kommen immer mehr in die Berge zurück. Die Leute hoffen auf ein besseres Leben.“ Der Wanderweg, glaubt der 48-Jährige, verbindet die Menschen und schafft neue Arbeitsplätze. „Wir sind alle Cousins“, sagt Zeki über die Nachbarn jenseits der Grenze, „mein eigener Familienname setzt sich aus einem muslimischen und katholischen Teil zusammen.“ 20 Betten stellt Zeki inzwischen Wanderern zur Verfügung. „Je mehr kommen, umso besser für uns.“ Im Moment kann er nur auf ein baldiges Ende der Pandemie hoffen – und dass die Albanischen Alpen danach all diejenigen anlocken werden, die einfach nur getrost Menschen und Viren aus dem Weg wandern wollen. Dass das Gebirge irgendwann einmal zu viele Touristen anziehen wird, kann er sich nicht vorstellen. „Es werden immer die verwunschenen Berge bleiben: abgelegen, ein bisschen einsam und einfach wunderschön.“
Von Win Schumacher