Samstag,
09.06.2018 - 00:00
5 min
Kreuzfahrt als Aktivtrip
Von Christian Schreiber

Eine Joggingstrecke hat mittlerweile fast jedes Kreuzfahrtschiff. Foto: Christian Schreiber ( Foto: Christian Schreiber)
Der Vormittag beginnt mit einer Knöchelverstauchung, einem kräftigen Husten und einer Platzwunde. Und trotzdem ist Kurt Machens entspannt und lächelt. Es hat ihn ja auch nicht selbst erwischt. Er hat seiner Sprechstundenhilfe nur kurz die ersten Patienten des Tages aufgezählt. Machens ist Arzt an Bord der „Mein Schiff 6“, die gerade im New Yorker Hafen liegt, bevor die Nordamerika-Kreuzfahrt morgen startet. Wer zu ihm kommt, braucht ein Mittel gegen Seekrankheit oder Fieber.
Was es gratis obendrauf gibt: einen Tipp für den nächsten Landgang und einen guten Rat. Als Arzt möchte Machens möglichen Krankheiten vorbeugen. Er weiß, dass viele Gäste von Buffet zu Buffet hechten und das inkludierte Paket alkoholischer Getränke auskosten. Frei nach der Devise: Um die Gesundheit kümmern wir uns erst wieder zu Hause. Und deswegen sind die letzten Worte, die man hört, bevor man das Reich von Kurt Machens auf Deck 3 des Kreuzfahrtschiffes verlässt: „Bewegung, Bewegung, Bewegung.“
Das soll das Motto dieses Hochseetrips werden. Wer vor der nordamerikanischen Küste unterwegs ist, denkt nicht unbedingt an eine Aktiv-Kreuzfahrt. Schließlich legt man fast jeden Tag in einer anderen Stadt in den USA und Kanada an. Überall gibt es für jede noch so kurze Strecke einen Bustransfer, kein Museum kommt ohne Förderbänder aus, und selbst zum Eingang der Fitnessstudios führen Rolltreppen.
Deswegen kommt auch Arzt Machens ins Spiel, der Unterstützung beim Sport-Programm und der Auswahl der Aktiv-Ausflüge versprochen hat. „New York muss man sich erlaufen“, lautet einer seiner Hinweise, nachdem er empfohlen hatte, vom weit draußen gelegenen Hafen nicht mit dem Taxi in die City zu fahren, sondern die imposante Hochhauskulisse vom Wasser aus mit einer Fähre anzusteuern. Sobald man wieder Land unter den Füßen hat, wird man mit den Touristenströmen von einem Highlight zum nächsten gesogen. Der Besucher, der sich im Wirrwarr der öffentlichen Verkehrsmittel kaum zurechtfinden kann, ist gut beraten, Manhattan laufend zu erkunden. Auch viele Einheimische verzichten auf Taxis und Busse und drängen sich auf den Gehwegen. Das mag zum Teil den aussichtslos verstopften Straßen geschuldet sein. Es hat sich im wahrsten Sinne des Wortes aber auch eine Gegenbewegung gebildet. Anzug-Träger und Arbeiter, die demonstrativ zu Fuß unterwegs sind und auf ihren Taschen das neue Credo in Aufkleberform vor sich hertragen: „I’m walking.“
INFORMATIONEN
Veranstalter: Zehn Nächte an Bord der „Mein Schiff 6“ ab 1095 Euro (1945 Euro inkl. Hin- und Rückflug). Reisezeitraum: September und Oktober 2018. www.tuicruises.com.
New York bildet den Rahmen dieser zehntägigen Kreuzfahrt. Die „Mein Schiff 6“ liegt am Beginn und am Ende der Reise in der Megacity an, sodass die Passagiere unterm Strich vier Tage dort verbringen können. Wir testen dort noch eine zweite aktive Sightseeing-Variante: mit dem Fahrrad von einem Höhepunkt zum nächsten.
Rockefeller Center, Times Square, Central Station, Brooklyn Bridge, Ground Zero – mit dem Bus wäre das an einem Tag kaum zu schaffen. Angst vor dem Verkehr muss niemand haben. New Yorker Autofahrer gewähren stets Vorfahrt.
Am nächsten Morgen, dem ersten Seetag, gibt es auch noch ein Lob vom Bordarzt obendrauf. Wir begegnen ihm zu früher Stunde beim Joggen. Es gibt eine Runde auf dem obersten Deck für sportliche Seefahrer, die hindernisfrei ist, solange noch keine Sonnenanbeter ihre Liegestühle ausgeklappt haben. Für uns jedenfalls ist es der Auftakt zum Hochsee-Siebenkampf, mit dem wir die freien Tage an Bord füllen wollen: Joggen, Yoga, Treppensteigen, Tanzen, Schwimmen, Shuffleboard und Spinning beruhigen fortan unser Gewissen.
Kurt Machens Aktiv-Tipp für Boston, dem nächsten Ziel der Reise, ist der Freedom Trail. Die acht Kilometer lange Tour entlang der Sehenswürdigkeiten der Stadt ist nur zu Fuß machbar. Man folgt einer roten Linie auf dem Boden, die sich über Bürgersteige und Straßen schlängelt, Häuserblöcke umkurvt und ganze Viertel durchzieht. Zwischen die Hochhäuser des modernen Bostons quetschen sich historische Friedhöfe und alte Kirchen. Die rund drei Stunden Sightseeing sind ein Schnelldurchlauf durch die amerikanische Geschichte mit den Höhepunkten Boston Tea Party, dem mutigen Widerstand gegen die britische Kolonialpolitik, und dem folgenden Unabhängigkeitskrieg. So nebenbei durchquert man das quirlige italienische Viertel, das hauptsächlich aus Restaurants besteht, und kleine Wochenmärkte, die man in einer Millionenstadt mit gigantisch großen Supermärkten nicht vermuten würde. Entgegen sämtlicher amerikanischer Hygienestandards gibt es dort rohe Austern, die Touristen auf offener Straße essen.
Radausflüge gehören zum Standard bei Seereisen
Es ist ein Vorgeschmack auf den nächsten Stopp der Tour in Bar Harbor im äußersten Nordosten der USA. Zum Standard-Programm dort gehört eine Busfahrt ins Hummer-Restaurant. Dabei sollte man die Zeit nutzen und die zerklüftete Felsenküste und die Bergwelt des Acadia National Parks erkunden. Freilich ist ein wenig Vorbereitung nötig, um eine Wanderung zu starten. Aber es lohnt sich durch die dichten Wälder zu marschieren, die dem Aktiv-Kreuzfahrer lange Zeit jegliche Aussicht nehmen. Am Gipfel des 470 Meter hohen Cadillac Mountain geben sie den Blick jedoch frei auf eine einzigartige Inselwelt. Auch der Wandertipp kam von Bordarzt Machens, der uns beim nächsten Treffen allerdings gesteht, dass er sich in Bar Harbor auf Hummer und Austern konzentriert hat. Immerhin hat er seine Restaurant-Tour zu Fuß absolviert.
Mit Saint John und Halifax liegen die letzten Häfen der Tour in Kanada. Beide Städte sind sehr hügelig und kosten Kraft, wenn man sie im Machens-Modus erkundet, nämlich mit dem Fahrrad. Radausflüge gehören mittlerweile zum Standard bei den meisten Seereisen. Ein Guide nimmt uns mit auf den Ritt durch die weiten Landschaften. Kanada ist dünn besiedelt und bietet der Natur viel Raum, sich zu entfalten. Es geht durch einsame Wälder, kleine Vororte und menschenleere Straßen – der maximale Kontrast zu New York.
Unser Aktiv-Fazit fällt positiv aus: Wir haben keine Rolltreppe und keinen Aufzug benutzt, Busse so gut es geht gemieden und auf viele Transfers verzichtet. Der Hochsee-Siebenkampf hat uns mindestens so viel Anerkennung des Bordarztes eingebracht wie die Aktiv-Ausflüge an Land. Machens selbst blickt auf eine arbeitsintensive Kreuzfahrt zurück, bei der er vor allem Atemwegserkrankungen behandeln musste. Im Land der unbegrenzt laufenden Klimaanlagen in Bussen und Taxis holen sich europäische Gäste schnell eine verstopfte Nase oder eine Bronchitis. Und so lautet die finale Erkenntnis: Wer sich aktiv bewegt und öffentliche Verkehrsmittel in den USA meidet, tut gleich doppelt etwas für seine Gesundheit.