Putin-Kenner: Ukraine-Krieg wird auch in Wahlen entschieden

aus Krieg in der Ukraine

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Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj würdigt an einem Denkmal in Lwiw die im russischen Angriffskrieg gefallenen Verteidiger der Ukraine.

Der renommierte Politologe Ivan Krastev kennt Russlands Präsident Putin. Er rechnet mit einer Intensivierung des Ukraine-Kriegs und blickt schon voraus auf das wichtige Jahr 2024.

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Wien. Der Ausgang des Kriegs in der Ukraine könnte sich an der Wahlurne entscheiden. Eine These, die der bulgarische Politologe Ivan Krastev, einer der renommiertesten seines Faches, aufwirft. Im Frühjahr 2024 wählen Russland und die Ukraine nahezu zeitgleich, dazu kommen die US-Wahlen.

„Auch wenn ein Witz in Russland heißt: ‚Du suchst dir deine Eltern und den Präsidenten nicht aus‘, bedeutet das nicht, dass die Wahlen nicht wichtig werden. Wladimir Putin wird sich rechtfertigen müssen“, sagt Krastev bei einer Veranstaltung des „Concordia Presseclub“ und dem „forum journalismus und medien” (fjum) in Wien. Der mittlerweile in Österreich lebende Politologe kennt den russischen Präsidenten und hat ihn vor dem Krieg am Rande einer Konferenz in Sotschi schon persönlich getroffen. 

Wahlen in der Ukraine werden zur Herausforderung

Auch in der Ukraine wird nächstes Jahr gewählt - eine extreme logistische Herausforderung, die wohl mit technischen Hilfsmitteln bewerkstelligt wird. „Für Selenskyj kann es keine Option sein, dass die Ukraine nicht wählt, während in Russland Wahlen stattfinden. Die Wahlen werden schwierig zu organisieren sein für die Ukraine, aber sehr wichtig. Denn ein großer Teil der westlichen Unterstützung beruht auf der Tatsache, dass hier eine Demokratie gegen ein autoritäres System kämpft“, so der Bulgare, der überzeugt ist: „Selenskyj wird vor den Wahlen keine Gebiete aufgeben.“

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Bis dahin geht der Bulgare, der das Centre for Liberal Strategies in Sofia leitet und auch am Institut für die Wissenschaft vom Menschen in Wien tätig ist, davon aus, dass der Krieg in der Ukraine an Intensität weiter zunehmen wird. „Beide werden vor den Wahlen versuchen, einen Punkt zu setzen“, so der Putin-Kenner. „Kriege enden nicht mehr mit Friedensverträgen, sondern sie werden eingefroren. Aber 2023 wird der Konflikt nicht einfrieren“, glaubt der 58-Jährige.

Die Wahlen werden schwierig zu organisieren sein für die Ukraine, aber sehr wichtig. Denn ein großer Teil der westlichen Unterstützung beruht auf der Tatsache, dass hier eine Demokratie gegen ein autoritäres System kämpft.

Ivan Krastev Politologe

Biden kann sich keine ukrainische Niederlage erlauben

Erst das Jahr 2024 könnte, so glaubt Krastev, größere Veränderungen mit sich bringen. Dazu bemüht er die Beispiele des Vietnam-Kriegs, der als Folge der Wahlen in den USA endete, und des Frankreich-Algerien-Kriegs. „Auch der Krieg im ehemaligen Jugoslawien endete mehr oder weniger mit der Abwahl Milosevics 2000“, schildert Krastev.

Mit den Wahlen in den USA, Taiwan, Großbritannien und des EU-Parlaments könnten sich die Kräfteverhältnisse zusätzlich verändern. „In den USA kann sich Präsident Biden, insbesondere wenn er sich zur Wiederwahl stellen sollte, keine Niederlage im Ukraine-Krieg erlauben“, so Krastev, der zugleich betont: „Die Ukraine kann den Krieg gegen Russland nicht gewinnen, wenn sie keine militärische und finanzielle Unterstützung aus den USA erhält.”

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Auch wenn die Wahlen erst 2024 sein werden, ist Krastev überzeugt, dass der Konflikt in diesem Jahr das bestimmende Thema in den politischen Debatten in Europa bleiben wird. Er hält es für möglich, dass die Kriegsgegner lauter werden. „Niemand wird sagen: Russland liegt richtig. Viele werden aber sagen: Russland liegt falsch, aber wir auch. Die USA sind der größte Profiteur dieses Kriegs, Europa ist der Verlierer.“ Dennoch glaubt er nicht an eine veränderte Unterstützung der europäischen Staaten, solange die USA ihren Unterstützungskurs beibehalten. Deutschland sieht der Politik-Experte in einem „kulturellen Wandel“. Das 100-Milliarden-Sondervermögen für die Bundeswehr treffe auf eine „deutsche Identität der Post-Kriegsgesellschaft, die für Frieden und Pazifismus“ steht.

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Krastev beobachtet „Sozialexperiment” in Russland

Und welche Zukunft sieht der Politologe Krastev für Russland? Der Wahl-Wiener glaubt nicht an einen schnellen Kollaps des Putin-Regimes. „Russland verliert für Jahrzehnte und erlebt einen Exodus an Intellektuellen und IT-Fachleuten.“ Zugleich beobachtet Krastev eine Art „soziale Revolution“. Während die Ukrainer wüssten, wofür sie kämpfen, fehle dieses Gefühl bei den russischen Soldaten. Daher hätte Jewgeni Prigoschin ein „Sozialexperiment“ begonnen.

Der Chef der Söldner-Truppe „Wagner“ wirbt Gefängnisinsassen an, bietet ihnen nach erfolgtem Kriegsdienst nicht nur die Freiheit, sondern auch kostenlose Studienmöglichkeiten, an. „Dahinter steht die Idee des sozialen Aufstiegs“, beschreibt Krastev. Und Krastev betont: Die Gefängnisse in Russland sind voll. Auf ein baldiges Ende des Konflikts deutet also wenig hin.

Über die aktuelle Lage in der Ukraine informieren wir Sie stets aktuell in unserem Live-Blog. Alle Hintergründe zum Krieg und zu den Auswirkungen auf unsere Region finden Sie in unserem Themenschwerpunkt „Ukraine-Krieg”.