Die Klügsten verlassen die Türkei

In der Türkei sehen einige junge Akademiker keine Perspektive mehr - viele von ihnen zieht es nach Deutschland. © dpa
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Rückblende: In den 60er- und 70er-Jahren migrierten mehr als eine Million Türken nach Deutschland. Damals waren es vor allem ungelernte junge Männer - häufig aus dem...

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FRANKFURT. Rückblende: In den 60er- und 70er-Jahren migrierten mehr als eine Million Türken nach Deutschland. Damals waren es vor allem ungelernte junge Männer - häufig aus dem ländlichen Anatolien, die das deutsche Wirtschaftswunder mitgestalteten und das Heer der ungelernten Arbeitskräfte auffüllten. In den letzten Jahren scheint sich die Geschichte zu wiederholen. Seit dem gescheiterten Militärputsch 2016 verzeichnet die Türkei erneut eine hohe Abwanderung junger Menschen nach Europa und Nordamerika.

Vor allem junge Menschen gehen

Allerdings sind es dieses Mal hoch qualifizierte Fachkräfte und vor allem junge Menschen aus allen akademischen Disziplinen, die sich in der Hoffnung auf eine bessere und freiheitlichere Zukunft Richtung Europa begeben. Der türkische Ärztebund (Türk Tabipleri Birligi; TTB) etwa spricht von einer explosionsartigen Abwanderung junger türkischer Ärzte, die erst kürzlich ihr Studium beendeten. Als Gründe für das Verlassen ihrer Heimat geben viele neben der extremen Inflation und der politischen Instabilität auch den Druck durch Vetternwirtschaft an und Gewalt seitens Familienangehöriger ihrer Patienten. Immer mehr Ärzte trauen sich - laut TTB - nicht, schwierige Operationen durchzuführen, weil sie Angst vor Übergriffen islamistisch orientierter Familien ihrer Patienten haben.

Die Not junger und gut ausgebildeter Akademiker in der Türkei lässt manche Branchen regelrecht erblühen: Sprachschulen und Vermittlungsagenturen boomen. Die einen vermitteln europäische Fremdsprachen, die anderen versprechen den Verzweifelten Hilfe bei der Einreise in europäische Länder. Auf digitalen Foren wird ein deutlicher Anstieg von Anfragen zur Auswanderung nach Europa beobachtet. Außerdem zeigt sich dort die große Nachfrage nach Sprachkursen, besonders beliebt ist Deutsch, aber auch Holländisch steht hoch im Kurs. Zu den existenziellen Nöten der türkischen Jugend gesellt sich auch die Angst vor einer Denunziation als Gülenist. Staatspräsident Erdogan macht bis heute die Bewegung seines ehemaligen Wegbegleiters Fethullah Gülen für den gescheiterten Militärputsch verantwortlich. Arbeitgeber, die sich ihrer Arbeitnehmer entledigen wollen, greifen nicht selten zu diesem politischen Druckmittel, um Kritiker bzw. unliebsame Kollegen loszuwerden. Wer in der Türkei als Gülenist bezeichnet oder denunziert wird, muss nicht nur mit einer Gefängnisstrafe, sondern auch mit sozialer Ächtung rechnen.

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Zahlen belegen die Abwanderung der türkischen Jugend. Die türkische Statistikbehörde verzeichnet für 2019 eine Anzahl von 330.289 Abwanderungen aus der Türkei. Der überwiegende Teil der Türken, die die Türkei verlassen, gehört der Altersgruppe der 35- bis 39-Jährigen an (40,9 Prozent) - qualifiziert und berufserfahren. Dann folgt mit 12,6 Prozent die Gruppe der 20- bis 24-Jährigen und mit 15,2 Prozent die Gruppe der 25- bis 29-Jährigen. Im gleichen Zeitraum, also 2019, verzeichnet das deutsche Bundesamt für Statistik 43.775 Zuzüge aus der Türkei. Auffallend ist, dass die Mehrheit der Exilanten aus westlich geprägten Städten der Türkei abwandern.

Istanbul führt mit 42,5 Prozent, die Hauptstadt Ankara folgt mit 8,7 Prozent, Antalya mit 5,4 Prozent, Izmir mit 3,4 Prozent. In diesen Städten dominierte einst eine urbane, westlich geprägte Jugend, die sich dort an den besten Universitäten des Landes ausbilden ließ.

Seit 2019 veröffentlicht die Türkische Statistikbehörde keine aktuellen Zahlen mehr über die Emigration aus der Türkei. Oppositionspolitiker und türkische Wissenschaftler vermuten dahinter eine politische Entscheidung, um das Ausmaß des sogenannten Braindrains zu verheimlichen. Die einseitige Abwanderung qualifizierter Fachkräfte führt zu einer akuten und chronischen Versorgungslücke in der Türkei. Ob in der Wirtschaft, Industrie oder in der medizinischen Versorgung. Für Deutschland mit seinen demografischen Problemen stellt sie dagegen eine große Chance dar, sofern die Einwanderungsbedingungen für qualifizierte Arbeitskräfte erleichtert werden. Wer es sich leisten kann, verlässt die Türkei und will bis auf Familienbesuche oder Urlaube nicht zurückkehren. Die entstehenden Versorgungslücken versucht die türkische Regierung mit Migranten aus Ländern wie dem Irak zu schließen. Doch gehen Gesellschaftsforscher und Demografen davon aus, dass sich der Wirtschaftsstandort Türkei durch die Abwanderung junger Akademiker in Richtung Mittelmäßigkeit bewegt.

Der 43-jährige Ali Yildirim (Name von der Redaktion geändert) ist einer der jungen Fachkräfte, der bereits zu Beginn der Bewegung seiner Heimat den Rücken gekehrt hat. Aus Angst vor politischen Konsequenzen für sich und seine Familie - auch hier in Deutschland - möchte der junge Mann nicht namentlich erwähnt werden. Der promovierte Ingenieur ist sich sicher, dass der Weg in die Mittelmäßigkeit und der Abfall des intellektuellen Niveaus ein ausdrückliches Ziel der türkischen Regierung sei.

Der 1980 in Rize am Schwarzmeer geborene Mann hat in Istanbul studiert und dort viele Jahre als Industrie-Ingenieur gearbeitet. Seit 2012 lebt Yildirim in Frankfurt am Main. Schon damals störte sich Yildirim an den zunehmend autoritären Tendenzen des Landes. "Die türkische Wissenschaft stockt, sie reproduziert sich nicht, denn die innovativen und kreativen Köpfe haben das Land verlassen. Und selbst wenn sie geblieben sind, bekommen sie keine Chance auf einen Job, wenn sie nicht regierungskonform sind."

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"Deutschland ist fair"

Yildirim beobachtet in seinem türkischen Familien- und Freundeskreis eine erhöhte Nachfrage nach der Aussiedlung in europäische Länder. Großbritannien, Deutschland, Niederlande - Hauptsache raus aus der Türkei lautet die Devise seiner Bekannten. Neben den instabilen wirtschaftlichen und politischen Verhältnissen sind es auch andere Faktoren, die junge Menschen zu einer Ausreise bewegen: "Deutschland ist fair. Wer hart arbeitet, bekommt die entsprechende Entlohnung. Hier herrscht Gerechtigkeit", lobt Yildirim die deutsche Arbeitsmentalität.

Auch wenn ihm manche türkische Tugenden wie die Herzlichkeit und Spontanität in seiner hiesigen Arbeitsumgebung fehlen, weiß er doch die Vorteile der direkten Kommunikation und der türkischen Netzwerke vor Ort zu schätzen. Die Türkei besucht er weiterhin regelmäßig. Vor Ort sieht Yildirim seine Zukunftsprognosen für die Türkei bestätigt: "Je ungebildeter die Bevölkerung, desto stabiler die Herrschaft der Regierung. Dauerhaft bildet sich hier ein mittelmäßig gebildetes Volk heraus, das eine vollkommen unkritische Haltung zu einer zunehmend autoritären Regierung einnimmt."

Von Ilgin Seren Evisen