„Helft uns aus dem Dreck“ - Ahrtal-Flutopfer-Demo in Mainz
Stockender Wiederaufbau, fehlende Hilfsgelder: Mehrere hundert Menschen protestierten am Mainzer Landtag. Landespolitiker stellten sich, aber nicht die Landesregierung.
MAINZ. Es ist ein für Landeshauptstadt-Verhältnisse vergleichsweiser kleiner Demonstrationszug, der am Samstagmittag vom Mainzer Hauptbahnhof durch die Innenstadt vor den Landtag zieht. Aber es ist ein Protest mit politischer Brisanz und einer für das Land und speziell die Landesregierung bitteren Botschaft: Rund 350 Menschen aus dem Ahrtal sind nach Mainz gekommen, weil sie sich von der Politik und den Behörden vergessen und im Stich gelassen fühlen.
Sie fordern mehr Tempo beim Wiederaufbau, weniger bürokratische Hürden bei der Beantragung von Hilfsgeldern sowie den Weiterbetrieb eines Helferzentrums und eines Spenden-Verteilzentrums. Die Einrichtungen sollen nach einem Beschluss des Kreistages Ende Juli schließen, weil nach Angaben des Kreises Ahrweiler kein Geld mehr für den Weiterbetrieb da ist.
Vor dem Landtag, wo die Teilnehmer aufgrund einer Genehmigung des Landtagspräsidenten Hendrik Hering (SPD) demonstrieren durften, legten sie einen Kranz für die Todesopfer nieder und hielten eine Schweigeminute ab. Vor fast einem Jahr, vom 14. auf den 15. Juli, waren im rheinland-pfälzischen Ahrtal 134 Menschen ums Leben gekommen.
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„Wir verstehen nicht, dass wir fast ein Jahr nach der Flut nicht anständig in unseren Häusern wohnen können“, sagte nun Iris Münn-Buschow aus Bad Neuenahr-Ahrweiler, „Wir haben das Gefühl, dass es nicht weitergeht.“ Bei der Flut waren neben Garten auch Erdgeschoss und Keller ihres Hauses zerstört worden, mit ihrem Mann wohnt sie nun im oberen Teil des Hauses. Damit hätten sie im Vergleich zu vielen anderen Menschen im Ahrtal noch Glück gehabt, hatte sie im Vorfeld der Demonstration gegenüber dieser Zeitung gesagt.
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Sie könne nicht verstehen, dass sich die Behörden in Land und Bund bei der Unterstützung für das Ahrtal offensichtlich nicht absprechen, sagte sie nun Mainz: „Die Hilfe kommt einfach sehr, sehr schleppend bei uns an.“ Dabei sei am Anfang noch unbürokratische Hilfe versprochen worden. „Wir sind sehr verzweifelt“, sagte Mitorganisatorin Simone Herbaum. An die Adresse der ebenfalls nach Mainz gekommenen freiwilligen Helfer sagte sie: „Ihr seid unsere Hoffnung. Wir brauchen euch.“ Scharf kritisierte sie den Beschluss des Kreises Ahrweiler zur Schließung des „Baustoffzelts Kaiser“, in dem sich Betroffene kostenlos mit gespendetem Material zum Wiederaufbau versorgen können, und dem ebenfalls mit vielen ehrenamtlichen Helfern arbeitenden Spenden-Verteilzentrums Ahrtal.
Laut Kreis ist für den Betrieb kein Geld mehr da, die Soforthilfen des Landes seien aufgebraucht. „Das wurde über unsere Köpfe hinweg entschieden“, sagte Herbaum zur Schließung. Verantwortlich für den ins Stocken geratenen Wiederaufbau im Ahrtal ist aus ihrer Sicht ein „Kompetenzgerangel“ bei Behörden, Verwaltung und Politik. „Tut euch zusammen und helft uns aus dem Dreck“, lautete ihre Forderung an die anwesenden Politiker.
Denn einige Vertreter aus dem Landtag waren ebenfalls vor Ort, um sich dem Protest zu stellen und sich die Forderungen der Demonstranten anzuhören. Im Vorfeld hatten die Organisatoren neben Landtagspräsident Hering auch Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) und alle Fraktionen angeschrieben und eingeladen.
Vertreter der Ampelkoalition aus SPD, Grünen und FDP nehmen nicht öffentlich Stellung – das Land wird vertreten von Thomas Linnertz, Präsident der Aufsichts- und Dienstleistungsdirektion (ADD), der obersten Verwaltungsbehörde. Für die CDU waren die Landtagsabgeordneten Petra Schneider und Horst Gies gekommen, beide sind von der Ahr. Fraktionschef Christian Baldauf hatte wegen einer Corona-Infektion abgesagt.
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„Ich bin enttäuscht, dass von der Landesregierung niemand hier ist und der arme ADD-Präsident vorgeschickt wird“, sagte Gies, der nach der Flut und dem Rückzug von Landrat Jürgen Pföhler (CDU) kommissarisch die Kreisgeschäfte geführt hatte. Dass die Betroffenen nun in Mainz seien, sei „höchste Zeit“. Der Kreis könne dies nicht allein schaffen und brauche die Hilfe von Bund und Land. Für die AfD nahmen Fraktionschef Michael Frisch und Landeschef Jan Bollinger teil. Frisch lobte den Mut der Demonstranten, „hierher zu kommen und der Politik ihre Meinung zu sagen“ - er warb aber auch dafür, keine Fronten zwischen Helfern und Politik aufzubauen. Auch Freie-Wähler-Fraktionschef Joachim Streit kritisierte die schleppende Verteilung der Hilfszahlungen. „Das ist kein Problem des Geldes, sondern der Auszahlung.“ Dies zielt, wie auch die Kritik der Opfer, vor allem auf die als viel zu langsam und bürokratisch empfundenen Verfahren bei der Investitions- und Strukturbank (ISB), die für die Beantragung und Gewährung der Hilfen zuständig ist.
ADD-Chef Linnertz räumte ein, dass es mit dem Wiederaufbau im Ahrtal derzeit sehr langsam vorangehe. „Ich bin jede Woche im Ahrtal und weiß, wie es dort aussieht“, sagte er. „Ich weiß, dass die Anträge noch Schwierigkeiten machen, deshalb gehen wir jetzt auch von Haus zu Haus. Ich weiß auch, dass dies alles wahnsinnig belastend ist.“ Und: „Wir werden nicht wegsehen, wir werden Sie auch nicht vergessen“, versprach er den Betroffenen.
Doch die treibt aktuell sehr stark die Entscheidung des Kreises um, große Hilfszentren Ende Juli zu schließen. Darunter das Spenden-Verteilzentrum Ahrtal. „Aus guten Gründen kommt der Frust und die Wut“, sagte dessen Leiter Nick Falkner in Mainz zur Stimmung im Tal, dennoch warb er für „Zusammenhalt und Solidarität“. Offenbar tiefe Risse gibt es aber zwischen der Kreisverwaltung und dem Gartenbau-Unternehmer Wilhelm Hartmann aus Fulda, einem im Tal sehr bekannten Helfer der ersten Stunde und Betreiber eines Containerdorfs sowie des „Baustoffzelts Kaiser“. Der Kreis wirft ihm vor, bei den Wohncontainern wiederholt Sicherheitsauflagen nicht erfüllt zu haben und beim Baustoffzelt den ungefähren Wert der ausgeteilten Waren an Flutopfer trotz mehrmaliger Aufforderung nicht nachweisen zu können.
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Hartmann sprach nun in Mainz gegenüber dieser Zeitung von einer von einem bestimmten Lager gesteuerten „Kampagne gegen meine Person“, die Kreisverwaltung sei dieser Kampagne zum Opfer gefallen. Die Hintergründe würden aber noch ans Licht kommen, und „dann werden einigen Entscheidern im Ahrtal die Augen geöffnet“, sagte er. Dass angesichts des offensichtlichen Personalmangels bei der ISB, der die Auszahlung von Hilfsgeldern behindere, nun er wegen fehlender Belege kritisiert werde, sei „kurios“. Erst am Freitag seien 110 Haushalte mit Spenden versorgt worden, sagte darüber hinaus der Leiter des Baustoffzelts, der im Tal unter seinem Spitznamen „Kaiser“ bekannt ist und seinen richtigen Namen nicht nennt. Die Nachfrage von Betroffenen sei also nach wie vor hoch. Die angekündigte Schließung des Baustoffzelts nannte der 45-Jährige aus Bochum im Gespräch „sehr, sehr traurig“, die Vorwürfe der mangelhaften Buchführung könne er nicht nachvollziehen. Schließlich arbeite das Baustoffzelt vor allem mit ehrenamtlichen Helfern und wenig Personal.
Zahllose Geschichten von verzweifelten Opfern und Angehörigen, ob direkt betroffen oder nicht, waren in Mainz zu hören. Mirjam Zimmer (47) etwa wohnt am weiter weg gelegenen Nürburgring, stammt aber aus dem schwer getroffenen Ort Insul und arbeitet noch immer als Physiotherapeutin im Ahrtal. Noch immer breche jeden Tag einer ihrer Patienten in Tränen aus, berichtete sie. Theresia Doppelgatz (57) wiederum ist seit fast einem Jahr in Kurzarbeit. Die Klinik in Bad Neuenahr-Ahrweiler, in der sie eigentlich als Therapeutin arbeitet, kann derzeit wegen der schweren Schäden keine Patienten versorgen. Das Problem: Nach einem Jahr läuft das Kurzarbeitergeld aus - ihr drohe nun die Bedürftigkeit, sagte sie. Damit gehe es ihr wie vielen Menschen im Tal, die nicht arbeiten könnten, weil ihre Arbeitsplätze bei der Flut buchstäblich zerstört oder schwer beschädigt wurden. Zusätzlich zu den Schäden am eigenen Haus oder in der eigenen Wohnung. „Man kommt nicht aus eigener Kraft aus dieser Misere raus“, sagte sie nun und forderte eine Verlängerung des Kurzarbeitergeldes für die Betroffenen im Ahrtal.
Die wohl emotionalste Wortmeldung an diesem Tag kam von Dana Barnebeck, einer 26-jährigen Erzieherin aus Hamburg, die zu den vielen freiwilligen Helfern im Ahrtal gehört. Seit Monaten kommt sie an den Wochenenden und im Urlaub ins Tal, um zu helfen. „Wir alle kennen den Tag, an dem wir zum ersten Mal dort waren. Das hat alles verändert“, sagte sie. Immer wieder höre sie von Betroffenen, dass sie jetzt ohne die freiwilligen Helfer noch im im Schlamm säßen. „Ich hätte gehen können, die Betroffenen aber nicht“, sagte sie. „Wir werden weitermachen, egal was passiert“ - viele der Demonstranten aus dem Ahrtal hatten nach der Rede Tränen in den Augen.