Hessen sei wohlhabend, die soziale Sicherheit im Land groß, sagt Sozialminister Stefan Grüttner (CDU). Warum gleichwohl immer mehr Hessen als armutsgefährdet eingestuft...
WIESBADEN. Hessen sei wohlhabend, die soziale Sicherheit im Land groß, sagt Sozialminister Stefan Grüttner (CDU). Warum gleichwohl immer mehr Hessen als armutsgefährdet eingestuft werden müssen: Das versucht der Zweite Hessische Landessozialbericht auf 326 Seiten zu ergründen. Grüttner hat ihn jetzt vorgelegt.
Nach allgemeiner Lesart gilt: Wer weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens verdient, gilt als armutsgefährdet. Das traf 2015 für 14,4 Prozent aller Hessen zu. Im vergangenen Jahr stieg die Quote nach Angaben das Statistischen Landesamtes auf 16,5 Prozent. Konkret heißt das etwa für eine Familie mit zwei Kindern: Sie gilt als arm, wenn sie im Monat weniger als 2 075 Euro verdient.
Besonders betroffen sind allerdings Alleinerziehende, rund 900 000 in Hessen. Fast die Hälfte aller Haushalte von Alleinerziehenden war 2016 – unabhängig von der Kinderzahl – von Armut gefährdet. Nach Angaben des Statistischen Landesamtes betrug das Einkommen von 46 Prozent der Alleinerziehenden weniger als 60 Prozent des durchschnittlichen Einkommens aller Privathaushalte in Hessen. Die Armutsquote der Alleinerziehenden steigt, unabhängig davon, ob sie einen Job haben, sagt Thomas Domnick, Vorsitzender der Liga der Freien Wohlfahrtspflege in Hessen. Damit werde deutlich, dass Arbeit nicht unbedingt vor Armut schützt. „Um diesen Teufelskreis zu durchbrechen, braucht es mehr Teilzeit- und modulare Ausbildungsgänge für Alleinerziehende sowie ergänzende Landesprogramme für alle Armutsrisikogruppen“.
Die Liga Hessen begrüßt das Vorhaben der Hessischen Landesregierung, die Betreuung der Kinder gebührenfrei anzubieten. Gerade Kindertageseinrichtungen und Kindertagespflege hätten in der Prävention von Armut elementare Aufgaben und Funktionen.
„Niedriglohnsektor verschärft die Lage“
Verschärft werde die prekäre Lage vieler Menschen durch einen wachsenden Niedriglohnsektor, eine unverhältnismäßig starke steuerliche Belastung von kinderreichen Familien und Haushalten sowie durch Wohnraumknappheit, so die Liga.
Der Landessozialbericht hat – trotz seines Volumens – Schwächen. In einigen Kapiteln sind die Daten, auf die er zurückgreift, veraltet. Vor allem aber sieht Felix Bleser, der im Expertenbeirat die Evangelischen Kirchen vertritt, Unschärfen bei den Rändern. Er meint damit die extrem Armen und extrem Reichen.
Es gibt in Hessen zwar Erhebungen über die Lage der Obdachlosen. Die aber sind nur bedingt repräsentativ.
Dem Reichtum in Hessen widmet der Landessozialbericht ein Kapitel mit Daten, die allerdings sieben Jahre alt sind. So erfährt man immerhin, dass es 2010 exakt 1 255 Menschen gegeben hat, deren Bruttoeinkommen die Millionengrenze überschritt. Werden die Nettoeinkommen gezählt, gibt es in Hessen nur noch 547 Einkommensmillionäre.
Grüttner sagte zu, der nächste Landesozialbericht werde eine Wohnungslosen-Statistik beinhalten.
Grundsätzliche Kritik an dem Bericht übt Stefan Hoehl, Sozialexperte der Vereinigung der hessischen Unternehmerverbände (VhU). „Den Hessen geht es viel besser als hier abgebildet“. Der Bericht sei zu sehr auf Sozialleistungen fokussiert und schweige, wo es um Umverteilung geht. Allein in Hessen werde ein Volumen von 70 Milliarden Euro umverteilt.
Tatsächlich steigt im Landeshaushalt das Sozialbudget 2018 auf fast 100 Millionen Euro an und erreicht 2019 den Rekordwert von 118 Millionen Euro – eine Verdoppelung der Mittel innerhalb der Legislaturperiode. Aus diesem Topf werden Programme finanziert, um Menschen in schwierigen Lebenssituationen, Familien und Alleinerziehende zu unterstützen. Die Wirkung dieser Programme müsse genauer untersucht werden, fordert VhU-Sozialexperte Hoehl.
Er hält wenig von der These, nach der niedrige Löhne die Armut wachsen ließen. Tatsächlich seien Arbeitslose sechs Mal mehr von Armut betroffen als jene, die einen Job haben Besser sei, die Armut im Lande mit mehr Bildung zu bekämpfen.
Von Christoph Cuntz