Der erste von vier Kühltürmen ist am Donnerstag zum Einsturz gebracht worden – damit wurde der endgültige Rückbau des einzigen hessischen Atomkraftwerks eingeläutet.
Biblis. Um 11.29 Uhr fällt der Kühlturm: Der Beton sackt ein, kippt leicht nach links weg und die Betonstruktur fällt in sich zusammen. Eine große Staubwolke zieht nach dem etwa drei Sekunden andauernden Spektakel über die Felder rund um das Atomkraftwerk Biblis. Der rund 80 Meter hohe Turm von Block A ist Geschichte. „Alles ist planmäßig verlaufen – die umliegenden Hochspannungsleitungen und Gebäude wurden nicht beeinträchtigt“, vermeldet Alexander Scholl, Sprecher von RWE Nuclear – einer Tochter des Energieriesen RWE, die den Abschied von der Atomenergie im Konzern abwickelt. Um den Turm war eine Sicherheitszone eingerichtet worden. Unter die zahlreichen Journalisten haben sich vereinzelt Anwohner gemischt, RWE-Mitarbeiter haben auf dem Dach gute Plätze, um sich einen guten Blick auf den linken der beiden Kühltürme von Block A zu sichern. Beifall ertönt aber nicht, als der Turm schließlich am Boden liegt.
Der kontrollierte Einsturz des Kühlturms hat lange Vorarbeit erfordert: In den vergangenen Tagen wurden Schlitze in den Beton gehauen, um das Bauwerk zu schwächen. Im unteren Teil des Turms wurden sechs Stützen angebracht, die per ferngesteuerten Baggern am Donnerstagmorgen nach und nach entfernt werden. Lautes Hämmern ist aus dem Inneren zu hören, fünf Stützen werden nach Angaben von Schmoll komplett entfernt, bis der Turm endlich nachgibt. Bis zur Stilllegung des AKW im Frühjahr 2011 dienten die Kühltürme dazu, den Rhein an heißen Sommertagen oder Niedrigwasser nicht zu stark mit Wärme zu belasten.
Wie sieht der Reaktor von innen aus? Ein 360-Grad-Blick in den Reaktorblock A:
Der Abriss des zweiten Kühlturms von Block A wird nach Ankündigung von RWE voraussichtlich in der zweiten Februarhälfte erfolgen. Die Kühltürme von Block B folgen nach derzeitigem Planungsstand ab 2024 – das umstrittene Industriewerk, das fast 50 Jahre das Landschaftsbild im südhessischen Ried geprägt hat, wäre dann Geschichte. „Bis 2032 wollen wir mit dem Rückbau des AKW Biblis fertig sein”, kündigt Scholl an.
Fakten und Chronik des AKW Biblis
Biblis war mit einer Gesamtleistung von 2525 Megawatt nach dem bayrischen AKW Gundremmingen das zweitertragreichste Atomkraftwerk in Deutschland – damit konnten bis zu sechs Millionen Haushalte versorgt werden.
Die Anlage besteht aus zwei nahezu baugleichen Druckwasserreaktoren: Block A ging 1974 ans Netz, Block B 1976. Die ursprünglich geplanten Blöcke C und D wurden nicht mehr realisiert.
Am 16. Juli 1974 wurde in Block A die erste Kettenreaktion eingeleitet und lieferte am 25. August 1974 erstmals Strom ins öffentliche Verbundnetz. 1977 folgt Block B.
2006 wurde in Biblis ein Zwischenlager für abgebrannte Kernbrennstäbe eingerichtet – es bietet Platz für 135 Castor-Behälter.
2011 musste der Betreiber RWE nach der Fukushima-Reaktorkatastrophe gemäß einer Anordnung des Hessischen Umweltministeriums Block A am 18. März herunterfahren, Block B ist wegen einer planmäßigen Revision – bei der die Anlage runter- und wieder hochgefahren wird – bereits vom Netz.
Die Stilllegungsphase des AKW Biblis hat mit der Rückbaugenehmigung am 30. März 2017 offiziell begonnen.
Bereits seit Sommer 2017 läuft nach der Abschaltung im Jahr 2011 der Rückbau des AKW – bislang allerdings weitestgehend im Inneren und unsichtbar für die Öffentlichkeit – von innen nach außen. Das Atomkraftwerk wird in eine „Rückbau-Fabrik” umfunktioniert, deren einzige Aufgabe eben der Rückbau sämtlicher Anlagen ist. Dort werden beispielsweise die nicht mehr benötigten Reaktordruckbehälter und Dampferzeuger zerlegt und zur Wiederverwertung im Wertstoffkreislauf gereinigt. Nach Angaben des hessischen Umweltministeriums ist Block A seit November 2016 und Block B seit Juni 2019 kernbrennstofffrei.
Beim Rückbau des AKW Biblis fallen pro Kühlturm rund 15.000 Tonnen Bauschutt an. Während der Betriebsphase kamen die Kühltürme nicht mit radioaktiver Strahlung in Kontakt. Der Bauschutt soll nach Angaben von RWE aufbereitet werden – die Betonqualität mache es möglich, dass das Material zum größten Teil als Kiesersatz für die Betonproduktion oder als sogenannter Zuschlagstoff in der Zementindustrie wiederverwertet werden könne.
Video: Der erste Kühlturm ist gefallen
Konflikt um Entsorgung des AKW-Bauschutts
Der Rückbau verursacht bereits seit Jahren Konflikte um die Frage, wo der schwach radioaktive Bauschutt aus dem Abbruch entsorgt werden soll. Angestrebt ist zur Vermeidung von Transporten – und auch, weil bundesweit andere Deponien abgesagt haben – eine „ortsnahe” Entsorgung auf der Büttelborner Deponie im Nachbarkreis Groß-Gerau – dagegen gibt es aber lokal Proteste. Bei dem Material aus Biblis handelt es sich um bis zu 3200 Tonnen „nicht gefährliche spezifisch freigebbare mineralische Abfälle“, also schwach radioaktive Abfälle, die unter einem Grenzwert von zehn Mikrosievert Strahlenbelastung liegen.
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Aktuell noch drei deutsche Atomkraftwerke in Betrieb
Das AKW Biblis wurde nach der Fukushima-Nuklearkatastrophe im März 2011 abgeschaltet – wie alle AKW, die bis einschließlich 1980 in Betrieb gegangen waren. Das betraf auch Brunsbüttel, Isar 1, Neckarwestheim 1, Unterweser und Philippsburg 1. 2011 entschied der Bundestag endgültig das Ende der Atomkraft in Deutschland. Ende 2021 wurden noch die Atomkraftwerke Grohnde, Gundremmingen C und Brokdorf abgeschaltet. Derzeit sind bundesweit insgesamt noch drei AKW in Betrieb: Isar 2, Emsland und Neckarwestheim 2. Sie sollten ursprünglich am 31. Dezember 2022 heruntergefahren werden – aufgrund der Energiekrise werden nach einem Bundestagsbeschluss die drei AKW in einem „befristeten Streckbetrieb” bis längstens 15. April 2023 weiterlaufen. Der Einsatz neuer Brennelemente ist hier aber nicht mehr zulässig.
Wie wird ein Atomkraftwerk zurückgebaut? Ein Blick ins Reaktorgebäude: