Darmstädter Forscher: Geflügelte Insekten sind 70 Millionen Jahre älter als gedacht
Von Sabine Schiner
Lokalredakteurin Darmstadt
Unscheinbar, aber widerstandsfähig: Der Nachtfalter der Gattung Micropterix ist ein lebender Repräsentant einer primitiven Motte, die vor mehr als 200 Millionen Jahren gelebt hat – und deren Schuppen Wissenschaftler in einem Bohrkern gefunden haben. Foto: Hossein Rajaei
( Foto: Hossein Rajaei)
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DARMSTADT - Was war zuerst da, der Schmetterling oder die Blütenpflanze? Bislang gingen Wissenschaftler davon aus, dass die Entwicklung der geflügelten Insekten eng mit den Pflanzen als Nahrungsquelle verbunden ist. Studien von fossilen Überresten haben nun ergeben, dass Schmetterlinge und Motten (Lepidoptera) rund 200 Millionen Jahre alt sind – und damit mehr als 70 Millionen Jahre älter als die ältesten versteinerten Blütenpflanzen, die man bisher gefunden hat.
Überlebenskünstler in harschem Klima
Während des Übergangs von der Trias in den Jura, das war vor 201 Millionen Jahren, sind mit der enormen vulkanischen Aktivität, die damals herrschte, viele Tiere und Pflanzen ausgestorben. An Land und auch in den Ozeanen. Viele primitive Reptilien haben die Widrigkeiten und klimatischen Veränderungen nicht überstanden. Motten und Schmetterlinge scheinen jedoch von den dramatischen Veränderungen der Umwelt profitiert zu haben. Diesen Schluss zieht ein internationales Forscherteam, dem auch Dr. Torsten Wappler, Paläoentomologe beim Hessischen Landesmuseum in Darmstadt, angehört.
„Eigentlich fing alles damit an, dass mir ein Kollege auf einer Tagung in Paris einige Schuppen auf Fotos zeigte“, erzählt Wappler. Die „komischen Strukturen“ entpuppten sich als fossile Insektenreste, die bei einer Bohrung in Niedersachsen in einer Tiefe von 338 Meter gefunden worden waren. Dort, in Schandelah, 75 Kilometer östlich von Hannover, hatten Paläontologen mithilfe von Bohrungen Sedimentschichten untersucht, um mehr über die damaligen klimatischen Veränderungen zu erfahren. Sie waren eigentlich auf der Suche nach Pflanzenpollen – und entdeckten Schuppen mit Fischgrätenmustern. Als Wappler die Fotos des Kollegen studierte, war er mehr als überrascht: Die Flügel- und Körperschuppen waren in Sedimente eingebettet, die mehr als 200 Millionen Jahre alt waren. Eine Sensation. Die Wissenschaftler nahmen sich daraufhin die fossilen Fundstücke vor. Es mussten zunächst Verunreinigungen ausgeschlossen werden, die Schuppen wurden von unabhängigen Laboren untersucht, von organischen Rückständen isoliert und mit Rasterelektronenmikroskopen fotografiert. „Wir haben uns die interne Struktur angeschaut“, erklärt Wappler. Die fossilen Insektenschuppen haben eine ähnliche Struktur wie die Schuppen von Springschwänzen und Silberfischchen – allerdings sind die Schuppen der 200 Millionen Jahre alten Funde innen hohl. „Ein deutliches Zeichen dafür, dass es sich hier um Schuppen von Motten handelt, wie wir sie von der überwiegenden Mehrheit der heute lebenden Motten und Schmetterlinge kennen und die saugende Mundwerkzeuge haben“, so Timo van Eldijk von der Universität Utrecht, der Hauptautor der Studie, die am Dienstag in „Science Advanced“ veröffentlicht wurde. Es kann also sein, dass sich die Tiere damals von Gymnospermen, von nicht-blühenden Samenpflanzen ernährten, die im Jura sehr häufig vorkamen. Doch Wappler warnt vor voreiligen Schlüssen: „Wir haben bislang nur Schuppen gefunden.“
JURAMEER
Der Fundort der ältesten fossilen Reste von Motten und Schmetterlingen ist Schandelah in Niedersachsen. Dort wurden schon zahlreiche Fossilien von Insekten und Fischen gefunden: Die norddeutsche Tiefebene war vor 180 Millionen Jahren vom Jurameer überflutet. (red)
Neuen Schwung in die Wissenschaft bringen die ältesten fossilen Reste von Insekten allemal. Wie haben es Motten und Schmetterlinge beispielsweise geschafft, ökologische Katastrophen und dramatische Treibhauseffekte zu überleben? Gerade mit Blick auf den von Menschen gemachten Klimawandel ist das eine Frage, die nicht nur Wissenschaftler bewegt.