Gastkommentar von Christian Nürnberger: Schicksalstage eines Kontinents
Von Christian Nürnberger
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"Prognosen sind schwierig, besonders wenn sie die Zukunft betreffen", lautet ein viel zitiertes Bonmot, an das man zu jedem Jahresanfang erinnert wird. Es gilt auch für dieses Jahr, aber eines ist diesmal anders, denn eines lässt sich schon heute mit Sicherheit vorhersagen: Dieses Jahr 2019 wird zu einem Schicksalsjahr für jene 508 Millionen Menschen, die heute in einer Zone der Demokratie und des Friedens leben, welche vom Nordkap bis nach Malta und von Irland bis zur Ägäis reicht.
Ihr Schicksal wird sich an vier Tagen dieses Jahres entscheiden, nämlich zwischen dem 23. und 26. Mai. Da wird ein neues EU-Parlament gewählt. Vom Ergebnis hängt ab, ob Europa und die Demokratie noch einmal eine Chance bekommen, oder ob es mit beiden zu Ende geht.
Die gute Nachricht ist: Das "Schicksal" ist kein unabwendbares Fatum, sondern unsere Entscheidung. Die schlechte Nachricht ist: Die Anhänger der Populisten, Rechtsradikalen und Nationalisten, die Hasser, Hetzer und leider auch die Denkzettel-Wähler werden voraussichtlich in großer Zahl zur Wahl gehen, denn sie wittern ihre Chance. Sie werden die wählen, die zerstören wollen, was Generationen von Politikern nach dem Zweiten Weltkrieg mühsam aufgebaut haben.
UNSER GASTAUTOR
Christian Nürnberger ist als Publizist tätig. Foto: Nürnberger
Es wird vor allem auf die Wahlbeteiligung ankommen
Es wird ihnen gelingen, wenn die anderen, die sich des Werts dieses kostbaren, in der Welt einmaligen, doch stets fragilen Gebildes namens EU zwar bewusst sind, aber wie üblich zu Hause bleiben. Wahlbeteiligungen an Europawahlen sind seit 1999 notorisch niedrig in Deutschland, immer unter 50 Prozent. Im EU-Durchschnitt liegen sie sogar noch ein bisschen niedriger. Bleibt es dabei, wird der Durchmarsch der Europazerstörer kaum aufzuhalten sein. Die schmerzliche Lehre aus dem 26. Mai könnte daher lauten, dass eine Demokratie nicht nur an ihren Feinden zugrundgehen kann, sondern auch an einem Mangel an Demokraten oder deren Gleichgültigkeit und Bequemlichkeit.
Das Gute ist: Zwischen heute und dem Wahltag liegen fast noch sechs Monate, genug Zeit, um ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass es diesmal wirklich auf jede Stimme ankommt. Daher muss während dieser Zeit eine Stimmung fürs Wählengehen aufgebaut werden. 70 Prozent, besser 80 Prozent Wahlbeteiligung sind anzustreben.
Das wird schwierig, denn die Politik- und Parteienverdrossenheit ist hoch und leider auch begründet. Aber all die, die schlau genug sind, um tausend Gründe ins Feld zu führen für die Unmöglichkeit, CDU, CSU, SPD, Grüne, FDP oder Linke noch wählen zu können, sollten eigentlich auch schlau genug sein, um einzusehen, dass Zuhausebleiben oder AfD wählen die dümmste Alternative wäre. Junge Briten haben sich nach dem Brexit-Votum verwundert die Augen gerieben, als sie erfuhren, dass sie raus sind aus Europa. Weil sie nicht gewählt hatten! Damit so etwas nicht ein zweites Mal europaweit passiert, muss in den nächsten Monaten bewusst gemacht werden, was auf dem Spiel steht.
Jeder Bürger ist aufgerufen, zuhause in der Familie, am Arbeitsplatz, im Freundes- und Bekanntenkreis dafür zu werben, dass man am 26. Mai die Pläne der Europazerstörer durchkreuzt. Wer Freunde im EU-Ausland hat, sollte ihnen sagen: Geht wählen. Statt seinen Frust am Stammtisch oder in den sozialen Medien hinauszuposaunen, sollte man ihn in die Wahlveranstaltungen der Parteien hineintragen. Dort bietet sich die Chance, Politiker zur Rede zu stellen. Dort kann man darüber diskutieren, wie unsere immer noch gut geordnete Oase der Stabilität in einer zunehmend verwüsteten Welt erhalten, verbessert und weiterentwickelt werden kann.
Ob unsere Zukunft eine ist, in der Menschen unterschiedlichster Kulturen und Religionen friedlich und freundlich miteinander leben und arbeiten, oder eine, in der Hass, Neid, Lüge und Hetze regieren - das wird bei dieser Wahl entschieden.