Viele Kinder leiden enorm unter der Trennung der Eltern: Was...

Im Streit nach einer Trennung werden Kinder oft zum Spielball. Foto: dpa

Jedes Jahr sind rund 200 000 Kinder von einer Trennung betroffen – mit teils extremem Folgen für die Psyche. Experten mahnen ein Umdenken von Eltern und Familienrichtern an.

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. Wenn Sven A. an Weihnachten denkt, versteinert sich sein Gesicht. „Früher war das mal ein schönes Familienfest für mich. Alle waren zusammen, die Kinder waren klein und alles war gut. Heute bin ich nur froh, wenn es vorbei ist.“ Der 45-Jährige hat vier Kinder, jeweils zwei von zwei Frauen. Seine 17-jährige Tochter und ihr zwölfjähriger Bruder leben seit der Trennung mit der Mutter in Norddeutschland. Die beiden jüngeren Kinder leben zwar in der Nähe, aber ebenfalls getrennt von ihm bei der Mutter. Weihnachten feiert Sven A. mit seiner Mutter und dem Bruder, seine älteren Kinder sieht er gar nicht – die kleinen, wenn es gut läuft, am zweiten Weihnachtsfeiertag.

Vier Kinder, aber keines sieht er regelmäßig

Mit seiner ersten Frau ist er im Unguten auseinandergegangen. „Ich denke, dass sie viel Schlechtes über mich geredet hat und dadurch die Kinder – ob bewusst oder unbewusst – stark manipuliert hat.“ Das ist für ihn der Grund, warum seine große Tochter keinen Kontakt zu ihm will und er den jüngeren Sohn so gut wie nie sieht. Die Mutter seiner jüngeren Kinder hat einen neuen Partner und versucht, den Kindsvater so weit wie möglich aus ihrem neuen Leben zu verdrängen.

Sven A.s Geschichte ist ein Beispiel für die Lage, in der sich getrennt lebende Eltern in Deutschland befinden. „Wir haben nach wie vor die Situation, dass im Trennungsfall die Kinder zu 70 Prozent bei der Mutter bleiben und dem Vater lediglich ein Umgangsrecht eingeräumt wird“, sagt der ehemalige Familienrichter Jürgen Rudolph. Jedes zweite Wochenende und ein bis zweimal unter der Woche ist der Regelfall. „Es gibt überhaupt keinen wissenschaftlichen Beleg dafür, warum ein Kind nur alle ein oder zwei Wochen den anderen Elternteil sehen soll“, sagt er.

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Jürgen Rudolph verschlug es kurz nach der Familienrechtsreform 1978 in das Moselstädtchen Cochem, wo er die „Cochemer Praxis“ entwickelte, heute noch zukunftweisend für deutsche Sorgerechtsverfahren: schnelle Intervention innerhalb von 14 Tagen, kurze Schriftsätze, in denen keine schmutzige Wäsche gewaschen wird, geteiltes Sorgerecht, mit dem Ziel, die getrennten Eltern zurück in ihre gemeinsame Elternverantwortung zu holen.

Leider hat das Modell nicht nachhaltig Schule gemacht. „Es gibt in Deutschland kein funktionierendes Beratungskonzept für Eltern in Trennungssituationen und keine Fortbildungspflicht für Familienrichter“, sagt Stefan Rücker, Psychologe am Zentrum für klinische Psychologie in Bremen. Er leitet die Arbeitsgruppe „Kindeswohl“ und das „Projekt Petra“, ein Verbund von Einrichtungen und Diensten, die Jugendhilfe betreiben.

Im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend realisiert „Petra“ eine Studie, in der die Auswirkungen der Betreuungsmodelle nach einer Trennung auf das Wohl des Kindes untersucht werden. Rund 1000 Familien nehmen daran teil.

Jedes Jahr sind laut Experten rund 200 000 Kinder von einer Scheidung oder Trennung betroffen. „In acht von zehn Fällen entstehen massive Konflikte nach der Trennung“, sagt Stefan Rücker. Die meisten Kinder leben bei der Mutter und haben nur am Wochenende Kontakt zu Vater. „Oft genug entscheidet nur ein Elternteil, ob der andere Elternteil Vater oder Mutter sein darf“, sagt Hans-Peter Dürr. Am Institut für Klinische Psychologie und Psychotherapie der Universität Tübingen leitet der Gesundheitswissenschaftler das „KiMissProjekt“. Eine Studie, die die Frage untersucht, in welchem Ausmaß das Getrenntleben der Eltern zu einer Sorgerechtsproblematik, einer Eltern-Kind-Entfremdung oder zum Sorgerechtsmissbrauch führt. „20 Prozent der Trennungen und Scheidungen in Deutschland verlaufen hochstrittig. Die Auswirkungen auf die betroffenen Kinder sind gravierend. Teilweise muss man sich fragen, ob es sich dabei nicht sogar um Kindesmisshandlung handelt“, sagt Dürr.

Falsche Vorwürfe im Sorgerechtsstreit

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Befragt wurden bei der „KiMiss“-Studie fast 1500 Elternteile, die weniger Kontakt zu ihrem Kind haben, als sie sich das wünschen. Zusätzlich hat Dürr Akten ausgewertet. Er beziffert die Rate der Falsch-Vorwürfe am Familiengericht auf geschätzte 30 bis 50 Prozent der Fälle.

Psychologe Stefan Rücker beobachtet Manipulationsversuche der Eltern. Mit seinen Interviewteams besucht er für die „Petra“-Studie betroffene Familien zu Hause und befragt auch die Kinder, sofern sie schon im Schulalter sind. „Eine Sechsjährige sagte einmal zu mir: ‚Der Papa ist übergriffig und kommt mir zu nahe‘“, berichtet Rücker. Da merke er sofort, dass etwas nicht stimmt. „Das ist nicht das Vokabular einer Sechsjährigen, da muss ein Erwachsener Einfluss genommen haben.“ Er beobachtet, dass der verletzte Elternteil selten bereit ist, sich auf eine vernünftige Lösung im Sinne des Kinds zu einigen. Oft schlägt der Frust über eine gescheiterte Ehe oder Beziehung um in Enttäuschung, Bitterkeit, Verzweiflung, Hass. Das wird dann auf Nebenschauplätzen ausgetragen. Viele der Prozesse vor den Familiengerichten sind Stellvertreterkämpfe um die gescheiterte Beziehung.

Das Mediationsmodell sei eine Möglichkeit, um zu einer Einigung im Sinne des Kindes zu kommen. Das Ziel ist es, Lösungen für die Probleme zu finden, die sich aus einer Trennung ergeben: Vermögensaufteilung, Versorgungsausgleich, Unterhalt für die Kinder und den Ehepartner sowie Sorge und Umgangsrechtsregelungen. Solche Gespräche können in Beratungsstellen wie Pro Familia oder beim Jugendamt stattfinden. Voraussetzung ist die Bereitschaft, sich offen und ehrlich auseinanderzusetzen und die Bedürfnisse und Interessen des anderen zu akzeptieren.

Oft sieht die Realität anders aus. Die Eltern kommunizieren nur noch über Anwälte, die Kinder werden an der Haustür übergeben wie eine Sache. Stefan Rücker hat Elternteile interviewt, die ihm Folgendes erzählt haben: „Wenn ich morgens einen Brief vom gegnerischen Anwalt aus dem Briefkasten hole, ist mein Tag gelaufen. Dann krieg ich kein Mittagessen mehr hin, kann mich nicht auf mein Kind konzentrieren.“

Daher sei der einzige Weg, eine Trennung für ein Kind so wenig belastend wie möglich zu machen, dass Eltern einen kooperativen Umgang miteinander finden. Es geht nicht um die Familienkonstellation an sich, in der ein Kind aufwächst. Es geht darum, seine Bedürfnisse in den Mittelpunkt zu stellen und das Gefühl zu vermitteln, dass Mama und Papa immer da sein werden.

Von Simone Höhn