Trendsport „Big Yoga“: Anja Liedtke gibt in Darmstadt Kurse für Übergewichtige
Von Meike Mittmeyer-Riehl
Die Darmstädterin Anja Liedtke hat vor zehn Jahren mit Yoga angefangen – mittlerweile gibt sie selbst Kurse speziell für Dicke.Foto: Big Yoga
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Yoga liegt seit Jahren im Trend. Entsprechend groß ist die Angebotspalette: Es gibt Yoga-DVDs für den heimischen Fernseher, Online-Anleitungen, Bücher und Kurse bei Vereinen, in Fitnessstudios oder speziellen Yoga-Studios. Gemeinsam haben all diese Angebote aber meist eines: Für sie geworben wird mit schlanken, durchtrainierten jungen Frauen, die sich verbiegen können, als seien ihre Glieder aus Gummi. So entsteht der Eindruck, dass man nur Yoga machen kann, wenn man schlank und fit ist. Wer mehr auf den Rippen hat, traut sich oft gar nicht erst in einen Kurs. Oder geht nie wieder hin, nachdem er dort schlechte Erfahrungen gemacht hat.
So ging es auch Anja Liedtke, als sie vor etwa zehn Jahren beschloss, mit Yoga anzufangen. „Ich war immer dick“, sagt die Darmstädterin unverhohlen. 140 Kilo brachte sie seinerzeit auf die Waage. „Ich wollte aber schon gerne Sport machen und mich bewegen. Mannschaftssport oder Schwimmen waren aber immer irgendwie peinlich.“ Also sollte es Yoga werden, um ihrem Körper durch sanfte Bewegung etwas Gutes zu tun. Sie schnupperte in verschiedene Kurse herein und war dort fast immer ein Exot – umgeben von Schlanken. „Die Yoga-Lehrer wussten nie so richtig, was sie mit mir anfangen sollten“, erzählt die heute 50-Jährige.
„Stell dich ganz nach hinten!“
Liedtke war zwar damals schon beweglich, konnte viele der Übungen aber trotzdem nicht wie gezeigt ausführen, weil zum Beispiel ihr Bauch im Weg war. „Weichteilsperre“ nennt sie diese körperlichen Barrieren liebevoll. In keinem Kurs fühlte sie sich richtig wohl. „Wenn du mitmachen willst, stell dich aber ganz nach hinten, damit die anderen überhaupt was sehen können“, warf ihr eine Übungsleiterin mal an den Kopf. Ziemlich krasse Worte.
Rückblickend findet Anja Liedtke, dass diese Erfahrung das Beste war, was ihr passieren konnte. Denn statt sich entmutigen zu lassen, sagte sich die Rechtsanwaltsgehilfin: „Es kann doch nicht sein, dass der Mensch sich an Yoga anpasst. Eigentlich müsste sich die Bewegungsform doch an den Menschen anpassen.“ Trotz ihres stattlichen Gewichts entschloss sie sich dazu, eine Ausbildung zur Yoga-Trainerin zu machen. Heute bietet sie im Stadtteil Eberstadt und im Alice-Hospital Kurse mit einem – im wahrsten Sinne des Wortes – ganz klaren Schwerpunkt an: „Yoga für alle, die mehr drauf haben“. Außerdem schreibt sie auf Big-Yoga.de über sich und ihren Sport.
Der Trend, Yoga auch für Menschen mit „Weichteilsperren“ zugänglich zu machen, hat vor einigen Jahren in den USA seinen Ursprung genommen. Als Vorreiterin gilt Meera Patricia Kerr, die 2009 mit ihrem Buch „Big Yoga: A Simple Guide for Bigger Bodies“ für Furore gesorgt hatte. Ihr Erfolgsrezept: Sie passte bekannte Yoga-Übungen den körperlichen Voraussetzungen kräftigerer Menschen an. Zu den Pionierinnen gehört auch die farbige Jessamyn Stanley, die ihre Posen auch auf Instagram präsentiert. Ihr Buch „Every Body Yoga“ (etwa „Yoga für jeden Körper“) ist Anfang des Jahres erschienen – allerdings nur auf Englisch.
Noch nicht so populär wie in den USA
Nach einem ähnlichen Prinzip arbeitet auch Heike Beuscher, die seit 2016 „Körperfreude-Yoga“ – wie sie es nennt – in Wiesbaden und Bad Kreuznach anbietet. Auch sie hat in früheren Kursen schlechte Erfahrungen gemacht. „Da haben wir zum Teil gefühlt tausend Mal den Sonnengruß wiederholt“, erzählt die 35-Jährige. Also eine bestimmte Abfolge von Übungen, die vom Stand in die Bauchlage und wieder zurück in den Stand führt. „Mir tropfte der Schweiß – da kann ich auch genauso gut ins Fitnessstudio gehen. Für mich persönlich war das kein Yoga mehr.“ Eine Freundin brachte sie schließlich auf die Idee, doch mal speziell etwas „für Kurvenfrauen“ anzubieten. In Beuschers Kursen stehen langsame, bewusste Bewegungen und Achtsamkeitsübungen im Fokus.
Inzwischen hat Beuscher ihr eigenes Yoga-Studio in Bad Kreuznach eröffnet. Das ist auch das Ziel von Anja Liedtke. Die beiden Yoga-Trainerinnen machen derzeit gemeinsam eine Weiterbildung zur Klangmassagepraktikerin. Man kennt sich in der Branche – noch ist „Big Yoga“ in Deutschland nicht so populär wie in den USA.
Doch das ändert sich gerade, haben Beuscher und Liedtke beobachtet. Die Nachfrage nach ihren Kursen steigt ständig. Und im Grunde geht es dabei um viel mehr als nur ein körperliches Training. „Es geht um Selbstbewusstsein“, betont Anja Liedtke, „und darum, zu lernen, liebevoll mit dem eigenen Körper umzugehen“. Dazu gehört auch, die Grenzen des eigenen Körpers zu respektieren.
Training ohne Leistungsdruck und Schlankheitswahn
Wenn eine Übung mal nicht geht oder man lieber im Sitzen trainieren möchte, ist das völlig okay. Der Leistungsdruck, mit den Fittesten und Schlanksten mitzuhalten, fällt weg. Alles kann, nichts muss. Diese Botschaft wird greifbar, wenn man einen „Big Yoga“-Kurs von Anja Liedtke besucht. Die Geschichten der meisten Teilnehmer ähneln sich erstaunlich, viele haben in früheren Sportkursen Anfeindungen und Ausgrenzung erlebt. Hier, im geschützten Rahmen, ist das anders. „Es gibt einem so unglaublich viel“, sagt Teilnehmerin Angelika Bruchwalski und spricht damit wohl vielen ihrer Mitstreiter aus dem Herzen: „Hier kommt man raus und fühlt sich, als könnte man Bäume ausreißen.“
Das Abnehmen steht bei „Big Yoga“ zwar nicht im Fokus – vielen gelingt es aber trotzdem. Trainerin Anja Liedtke ist dafür das beste Beispiel. Im vergangenen Jahr hat sie innerhalb von neun Monaten 50 Kilo abgenommen. Ausschlaggebend dafür waren Probleme mit dem Meniskus, ihre Tätigkeit als Yoga-Trainerin stand auf dem Spiel. Sie stellte ihre Ernährung radikal um und lernte, ein besseres Gefühl für Hunger und Sättigung zu entwickeln. „Ohne Yoga“, ist sie sicher, „hätte ich das nicht geschafft“.