Die Zahl der Rentner steigt, die der Beitragszahler sinkt. Immer mehr Wahlberechtigte über 60 entscheiden über die Zukunft der Jungen. Leben die Älteren auf deren Kosten?
. Susanne Holtkotte trägt für ihre Mitmenschen große Verantwortung. Sie reinigt in einem Krankenhaus Toiletten, Bäder und Zimmer, um Patienten und Besucher vor schädlichen Keimen zu schützen. In 18 Jahren aber, wenn sie in Rente geht, wird von ihrer aufopferungsvollen, schlecht bezahlten Tätigkeit nichts bleiben als die Erinnerung an anstrengende Arbeitstage und zwei Bandscheibenoperationen. Ihr Rentenanspruch von voraussichtlich 715 Euro wird unter dem liegen, was sie dann als Empfängerin von Hartz IV, das bei Rentnern Grundsicherung heißt, ohnehin bekommt.
Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) will das ändern und verspricht Leuten wie ihr einen Aufschlag von bis zu 448 Euro auf ihre Rente – pro Monat. Doch Holtkottes Jubel fällt verhalten aus. Eine solche Regelung würde sie „ein bisschen ruhiger schlafen lassen, aber nicht viel“. Denn sie befürchtet, auf diese Rente Steuern bezahlen zu müssen wie andere Rentner auch. Das schmeckt ihr gar nicht. Steuern zahlen sollen immer die anderen.
Aus der Steuerkasse sollen Rentenaufstockungen nicht nur für diejenigen bezahlt werden, die Heil aus der Grundsicherung holen will. Steuergelder sollen auch an all diejenigen fließen, die zwar ebenfalls nach 35 Beitragsjahren eine niedrige Rente beziehen, aber auch ohne das zusätzliche Geld über die Runden kämen. Bis zu vier Millionen Menschen sollen nach Heils Vorstellungen von der Respektrente profitieren, doch nur jeder zehnte von ihnen gilt nach den Regeln des Sozialstaats als bedürftig. Denn längst nicht jeder lebt im Alter nur von dem, was die Rentenkasse ihm überweist. Ob Partner oder Vermögen, Betriebsrente, Eigenheim oder Erbschaften – es gibt viele Gründe dafür, dass eine niedrige Rente nur wenig aussagt über den Lebensstandard.
Natürlich könnte sich die Politik bei der Vergabe ihrer Sozialleistungen auch einfach auf die Menschen konzentrieren, die das Geld tatsächlich zum Leben benötigen. Das wäre wesentlich billiger, denn unter dem Strich gilt heute nur jeder 30. Rentner als bedürftig. In der Gesamtbevölkerung sind es doppelt so viele. Gerade deshalb aber macht es aus Sicht politischer Mandatsträger durchaus Sinn, den Kreis der berechtigten Rentner auszuweiten, anstatt mit dem Geld nur eine vergleichsweise kleine Wählergruppe zu beglücken.
Die Herkunft der Gelder ist für die Bürger noch schwerer nachzuvollziehen als deren Verwendung. Denn frisches Geld für den Sozialstaat lässt sich nicht nur durch höhere Steuern und Beiträge aufbringen, sondern auch dadurch, dass der Staat andere Aufgaben zurückstellt. Zum Beispiel eine digitale Infrastruktur, die Deutschland in Richtung Augenhöhe mit Schwellenländern wie Südkorea bringen könnte. Dort bestehen bereits 78 Prozent des ortsgebundenen Internet aus Glasfaserkabeln, die eine besonders hohe Übertragungsgeschwindigkeit ermöglichen. Deutschland, dessen Industrie auf ein leistungsfähiges Breitbandnetz besonders angewiesen ist, bringt es dagegen auf gerade mal 2,6 Prozent. Straßen und Schulgebäude verkommen nach und nach, die Bahn ist angesichts des jahrzehntelang vernachlässigten Schienennetzes nur noch ein Schatten ihrer selbst und die ausgezehrte Bundeswehr nicht einmal mehr in der Lage, die Kanzlerin oder den Bundespräsidenten verlässlich zu internationalen Terminen zu transportieren. Deutschland erziele Überschüsse bei den Staatsfinanzen, aber seine Infrastruktur habe „Defizite, wie es schlimmer nicht geht“, sagt Kasper Rorsted, der als Adidas-Chef einen Weltkonzern führt. Auch bei der Bildung gibt es Defizite. Im Fach Mathematik liegt Deutschland laut der Bildungsstudie TIMSS 2015 hinter Ländern wie Südkorea, Kasachstan, Polen, Japan und Portugal zurück.
Lebt Deutschland also aus der Substanz? Alimentieren wir die Vergangenheit und vergessen darüber die Zukunft? Bestehen die wahren Kosten des Sozialstaats in den unterlassenen Investitionen für die Lebenschancen der jungen Generation? 263 Milliarden Euro gab die gesetzliche Rentenversicherung im vergangenen Jahr für die Altersleistungen aus. Im Jahr 2021 soll die Summe erstmals die Marke von 300 Milliarden überschreiten, für 2023 werden bereits Ausgaben von 328 Milliarden erwartet. Die Sozialausgaben liegen über, der Bildungsstand der Schüler in wichtigen Fächern dagegen unter dem Schnitt der OECD-Staaten.
Doch wie lange kann das noch gut gehen? Bis 2028 wird nach einer Studie des Prognos-Instituts die Zahl der Rentner um 15 Prozent steigen, während die der Beitragszahler um sieben Prozent zurückgehen soll. Diese tektonische Verschiebung der Bevölkerungsstruktur zieht nicht nur den Wert der künftigen Rentenansprüche in die Tiefe, die die junge Generation zu stark steigenden Kosten wird erwerben müssen. Mit ihr geht auch eine grundlegende Veränderung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse einher. Seit der Bundestagswahl 1990 ist die Zahl der über 60-jährigen Wahlberechtigten um fünf Millionen gestiegen, während die der unter 30-jährigen um ebenfalls fünf Millionen gesunken ist. Inzwischen sind doppelt so viele Wahlberechtigte über 60 wie unter 30.
Der ehemalige Bundesverfassungsrichter Paul Kirchhof fordert einen radikalen Schritt. Um den Belangen der jungen Menschen mehr Gewicht zu verleihen, solle die Altersbegrenzung für die Teilnahme an Wahlen abgeschafft werden. Selbst Babys sollten das Wahlrecht erhalten, das bis zu deren Volljährigkeit allerdings von den Eltern ausgeübt werden solle. Schließlich sei das Wahlrecht ein Grundrecht und stehe somit auch Kindern zu, die von den heutigen politischen Entscheidungen am längsten betroffen seien.
Doch die Chancen auf eine Durchsetzung sind einstweilen gering, denn eine solche Radikalreform müsste ihrerseits unter den heutigen Mehrheitsverhältnissen beschlossen werden. Und an Einwänden mangelt es nicht: Wer garantiert, dass die Eltern tatsächlich im Sinne ihrer Kinder abstimmen? Darf es sein, dass Menschen mit Kindern in diesem Gemeinwesen mehr zu sagen haben als diejenigen, die vielleicht auch mangels Partner oder aus medizinischen Gründen kinderlos bleiben? Haben Rentner, die ja vielfach selbst Eltern und Großeltern sind, nicht ebenfalls die Belange der jüngeren Generationen im Blick?
Statt auf eine Veränderung der politischen Verhältnisse zu warten, muss die Jugend ihre Geschicke womöglich selbst in die Hand nehmen. Ihr schwacher Einfluss auf Wahlergebnisse liegt nicht nur an ihrer schwindenden Kopfzahl, sondern auch an ihrem geringen Interesse. Die Wahlbeteiligung der Jungen ist wesentlich niedriger als die der 60 bis 69-jährigen, die bei der vergangenen Bundestagswahl mit 81 Prozent an der Spitze lag. In Parteien sind Menschen unter 30 mit gerade mal acht Prozent nochmals weit schwächer vertreten als unter den Wahlberechtigten, unter denen sie noch einen Anteil von 15 Prozent einnehmen.
Die Vernachlässigung ihrer Interessen scheint inzwischen ein Ausmaß erreicht zu haben, das bei jungen Menschen trotz politischen Desinteresses ein massives Störgefühl erzeugt. Der blauhaarige Youtuber Rezo traf die CDU mit seiner millionenfach angeklickten Wutrede gegen deren Umwelt- und Sozialpolitik ins Mark; und die Schülerstreiks der „fridays for future“-Bewegung gegen den Klimawandel zeigen, dass junge Menschen nicht mehr alles hinnehmen wollen, was die Älteren ihnen hinterlassen. „Wir sind laut, weil ihr uns die Zukunft klaut“, skandieren sie.
Doch anklagend auf die Älteren zu zeigen, wird auf Dauer nicht ausreichen. Denn die eigentlichen Entscheidungen fallen nicht auf der Straße, sondern in Parlamenten, Parteien und Ministerien. Was über Demonstrationen und Youtube-Videos an den Regierungsapparat heran schwappt, muss dort auch aufgegriffen und weiterverfolgt werden. Proteste können Veränderungen anstoßen, aber nicht ersetzen. Kandidatenlisten und Parteitage voller junger Menschen können die Ideen der jungen Generation von der Straße dorthin tragen, wo in der Demokratie Interessen ausverhandelt und Entscheidungen getroffen werden. Das ist anstrengend, zuweilen frustrierend und bringt womöglich weniger Spaß als ein freitägliches Happening in der Fußgängerzone. Doch zum Nulltarif wird eine bessere Zukunft auch für diese Generation nicht zu haben sein.
Von Klaus Köster