Gewalt gegen Eltern: Teufelskreis aus Scham und Ohnmacht
Ein frustrierter Knuff gegen den Arm, weil es keine dritte Portion Schokopudding zum Nachtisch gibt. Ein zorniger Tritt gegen Mamas Bein, weil es nun aber wirklich Zeit ist, vom Spielplatz nach Hause zu gehen – solche Situationen kennen viele Eltern von Kleinkindern. Eine Mutter aus Wiesbaden erzählt von ihrem Alltag, in der solche Attacken an Häufigkeit und Intensität zunahmen.
Von Julia Anderton
Lokalredakteurin Wiesbaden
Foto: indomercy - stock.adobe
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Ein frustrierter Knuff gegen den Arm, weil es keine dritte Portion Schokopudding zum Nachtisch gibt. Ein zorniger Tritt gegen Mamas Bein, weil es nun aber wirklich Zeit ist, vom Spielplatz nach Hause zu gehen – solche Situationen kennen viele Eltern von Kleinkindern. Auch Anna Schumann (*Name von der Redaktion geändert) hat sich zunächst keine großen Gedanken gemacht, als ihre Tochter Leonie im Alter von fünf Jahren begann, sie gegen den Oberarm zu boxen oder ihr schmerzhaft in die Haut zu zwicken. „Ich habe ihr gesagt, sie soll aufhören“, erzählt die Wiesbadenerin. Doch die Attacken nahmen an Häufigkeit und Heftigkeit zu.
Seit etwa zwei Jahren wird Leonie, die im Frühling acht Jahre alt wird, mindestens einmal pro Woche gewalttätig gegen ihre Mutter. „Die Auslöser habe ich mittlerweile zu erkennen gelernt, aber es sind Nichtigkeiten und auch von mir oft nicht vorherzusehen, sonst könnte ich ihre Wutausbrüche deeskalieren beziehungsweise ganz vermeiden“, sagt Schumann.
Kleinste „Fehler“ lösen Ausbrüche aus
Meistens passiert es beim abendlichen Zubettgeh-Ritual. Als Auslöser reicht dabei schon, wenn Mama dem jüngeren Bruder „zu viel“ Aufmerksamkeit zukommen lässt. Tagsüber flippt Leonie aus, wenn sie beispielsweise den Fernseher ausschalten soll. Meistens hagelt es dann harte Tritte gegen Mamas Schienbein. „Ansonsten boxt sie mich in den Oberkörper, Bauch oder auch schon mal ins Gesicht“, sagt die Mutter. Dazu kommen wüste Beschimpfungen. „Das kann man gar nicht in Worte fassen… Mir ging es und geht es sehr, sehr schlecht damit“, bekennt Anna Schumann. An guten Tagen kann sie ruhig auf die Attacken reagieren und hinterher normal mit Leonie umgehen, die dann meist reumütig ist. „An meinen schlechten Tagen fühle ich mich hilflos, verletzt, traurig und als sehr schlechte Mutter und frage mich, was ich falsch gemacht habe“, berichtet sie.
Kontakt
Erste Hilfe bietet das Elterntelefon „Nummer gegen Kummer“ anonym und kostenlos unter 0800 / 11 10 550. Montags bis freitags von 9 bis 11 Uhr sowie dienstags und donnerstags von 17 bis 19 Uhr. Eine Übersicht der Erziehungsberatungsstellen ist auf der Internetseite der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung unter www.bke.de zu finden.
Anna Schumann freut sich über einen Austausch mit ebenfalls betroffenen Müttern und Vätern per E-Mail an lieblingskind2017@outlook.de
Thomas Detzel ist Sozialarbeiter und Systemischer Familientherapeut im Beratungs- und Jugendhilfezentrum St. Nikolaus des Mainzer Caritasverbandes. Seinem Eindruck nach sind Gewalttätigkeiten gegenüber Eltern generell häufiger als früher ein Thema. Das bedeute aber nicht, dass Kinder und Jugendliche gewaltbereiter geworden wären, sondern vielmehr Erziehungsunsicherheiten zugenommen haben. „Kinder sind eben nicht nur süß, sondern kennen auch aggressive Gefühle“, sagt er. Mit der kindlichen Emotionalität allein lasse sich das Schlagen aber nicht erklären. Gewalt gegen Eltern stehe häufig im Zusammenhang damit, dass ein Kind ein Elternteil entweder als besonders unsicher erlebt oder als übermächtigen Part, der vielleicht sogar selbst Gewalt anwendet. „Tragisch ist, dass es aber meistens da zu Gewalt von Kindern gegenüber einem Elternteil kommt, wo ein Vater oder eine Mutter es eigentlich besonders gut und liebevoll meint. Dass ein Kind ein Elternteil schlägt, steht meist am Ende einer langen Reihe von Erziehungsunsicherheiten und Auseinandersetzungen mit dem Kind“, sagt Detzel.
Seit Oktober 2015 in Therapie
Einen Teil des Problems vermutet auch Anna Schumann darin, dass Leonie vor der Geburt ihres Bruders keine Grenzen kannte. Infolge ihres Vollzeitjobs plagte Schumann ständig ein schlechtes Gewissen. So stand bei ihrer Heimkehr am späten Nachmittag vor allem Wünsche erfüllen auf dem Programm: „Sie hat bekommen, was sie wollte“, hat die Enddreißigerin mittlerweile erkannt. Als sie dann schwanger wurde, freute sich Leonie zwar auf das Baby. Doch der Zeitpunkt war ungünstig: In ihrem neuen Kindergarten fand sie keine Freundinnen und mit der Geburt des kleinen Bruders war sie für ihre Eltern nicht mehr der Hauptmittelpunkt. Und das hatte gravierende Folgen. Seit Oktober 2015 ist Leonie in Therapie, zwischenzeitlich teilstationär in der Kinderpsychiatrie, seit August 2016 ambulant. Das Fachpersonal diagnostizierte eine emotionale Anpassungsstörung mit Geschwisterrivalität. Leonie hat Schwierigkeiten, ihre Gefühle zu regulieren, gepaart mit krankhafter Eifersucht; hinzugesellt sich der noch nicht bestätigte Verdacht auf ADS.
Wirklich gebessert hat sich die Situation durch die Therapie nicht. Mittlerweile greift Leonie auch ihre Oma oder ihren Bruder an. Ihre Mutter versucht dann, sie schnell in ihr Zimmer zu bringen, damit sie dem Vierjährigen während der 10- bis 30-minütigen Wut-Attacken nicht noch mehr weh tut. „Während dieser Zeit ist Leonie nicht wirklich da. Sie starrt durch mich durch, schäumt vor Wut und hört und sieht nichts mehr. Sie droht sich selbst wehzutun, aus dem Fenster zu springen oder verlässt das Haus“, berichtet Anna Schumann, die mittlerweile von ihrem Ehemann getrennt lebt.
Auch die Kinder leiden
So belastend die Situation auch ist, Schumann zögert, sich jemandem anzuvertrauen. Zu viele Freunde haben ihr bereits den Rücken gekehrt. „Ich bin vorsichtig geworden, da man schnell verurteilt wird. Ich fühle mich allein gelassen und einsam.“ Thomas Detzel rät bei einem derart sensiblen Thema dazu, sich in erster Linie professionelle Unterstützung von außen zu holen: „Erziehungsberatungsstellen arbeiten unter Schweigepflicht und werden gemeinsam mit Eltern und Kindern versuchen, eine Lösung zu finden.“ Spätestens, wenn das Kleinkindalter mitsamt der Trotzphase überschritten ist, sei es fatal, auf die Hoffnung zu bauen, dass die Ausbrüche irgendwann von selbst aufhören. Die Folge: Die Eltern-Kind-Beziehung nimmt Schaden, Eltern hätten Angst vor dem eigenen Kind und vor sozialer Bloßstellung.
„Letztlich leiden auch die Kinder“, erklärt Detzel: Aus der Beziehung zu ihren Eltern erhalten sie den Großteil ihrer Ressourcen für Aufgaben, denen sie sich später als Erwachsene stellen müssen. Denn Respekt, Empathie und positive Beziehungsgestaltung lernen Kinder vor allem im familiären Miteinander. Daher sei die Gefahr groß, dass häufige Prügelattacken gegen Eltern lang anhaltende problematische Auswirkungen auf die Psyche und das Sozialverhalten des Kindes haben werden.
Dem Kind die Gefühle spiegeln
Die damit verbundene Scham verstärke oft einen Teufelskreis aus wachsender Unsicherheit, Ohnmacht und inkonsequentem Verhalten oder sogar elterlicher Gegengewalt, weiß Detzel. Unabhängig vom Alter des Kindes gelte es daher, die Attacken sofort zu unterbinden. Dafür brauche es wenig Worte, sondern entschlossenes Handeln und klares Auftreten. Hierfür reichen oft ein strenger Blick und ein deutliches „Nein“. Bei kleineren Kindern kann es hilfreich sein, dem Kind die Hände festzuhalten, ohne selbst Gewalt anzuwenden. Jüngere Kinder könnten ihr emotionales Verhalten noch nicht gut steuern, hier helfe es, dem Kind seine Gefühle zu spiegeln („Du bist echt sauer, oder?“) und ihm Alternativen zum Frustabbau anzubieten (etwa mit einem Kissen aufs Bett hauen). Bei älteren und körperlich stärkeren Kindern sei es wichtig, dass die Situation sofort aufgelöst wird, indem man entweder das Kind aus dem Raum schickt oder zur Not selbst diesen verlässt.