Frau Leon, haben Sie schon einen Corona-Krimi geschrieben?Nein, und zwar, weil ich nicht in Venedig war. Anfang März kam ich von einer Lesereise aus den Staaten nach Zürich,...
. Frau Leon, haben Sie schon einen Corona-Krimi geschrieben?
Nein, und zwar, weil ich nicht in Venedig war. Anfang März kam ich von einer Lesereise aus den Staaten nach Zürich, wo mich der Lockdown erwischt hat. Was wunderbar ist. Die Schweiz war in dieser Situation der beste Ort für mich. Ich spreche aber täglich mit meinen Freunden aus Venedig. Es muss bizarr sein.
Bedauern Sie es, diese ungewöhnliche Zeit in Venedig zu verpassen?
Nein. Ich bin 77 Jahre alt und möchte in keinem Land sein, in dem Menschen meines Alters so hohen Risiken ausgesetzt sind. Ich wäre gern bei meinen Freunden, aber – auch wenn es selbstbezogen klingt – ich meide das Risiko. Niemand weiß, was noch passiert. Womöglich könnte ich aus Italien nicht mehr zurück nach Zürich.
Brunetti lehnt den Massentourismus ab. Ist er als literarischer Städtebotschafter Teil des Problems?
Mir ist klar, dass ich eine Art Frankenstein-Monster erschaffen habe. Aber wer eine Stadt aus Liebe zu Büchern besucht, wer sich für ihr Geheimnis und ihre Schönheit begeistert, der kommt nicht mit Kreuzschiffen und Bussen, um nach sechs Stunden wieder abzureisen. Die meisten Venedig-Touristen bleiben nur einen Tag. Ich vermute, dass die Brunetti-Leser länger bleiben. Wer eine Woche bleibt, wer ein Hotel und kein Bed and Breakfast bucht, wer hier einkauft, der unterstützt Venedig. Kaputt gemacht wird die Stadt von Leuten, die sie benutzen und nicht mehr als einen Kaffee zahlen.
Oder die nur für ein einziges Foto auf ihrem Instagram-Account kommen.
Und da frage ich mich immer: Warum tut man das überhaupt? Wer interessiert sich für die Urlaubsfotos anderer Leute? Wir alle haben bei den Urlaubsbildern von Freunden und Schwiegermüttern doch nur einen Gedanken: Noch ein Strand an der Algarve und ich drehe durch! Lügt doch einfach! Bleibt zu Hause, wascht euer Auto, seid nett zu euren Männern, spaziert mit euren Frauen und Kindern im Park – und tut bloß so, als ob ihr irgendwo einen tollen Urlaub verbracht habt. Keiner will die Beweisfotos sehen.
In diesem Jahr ist der Park ja sowieso die einzige Option. Bei uns zu Hause bestehen die Safaris zurzeit auch aus Regenwurm-Jagden im Wald.
Großartig. Ich liebe Würmer.
Wirklich? Warum lieben Sie Regenwürmer?
Würmer sind die besten Freunde der Erde. Sie graben und graben und lockern und lüften die Erde. Ich hab ein kleines Haus in den Bergen. Mit Garten. Und ich liebe es, die Erde umzugraben und Würmer zu finden. Dann ist der Boden gut. Ich bin ein echter Fan von Würmern. Wahrscheinlich klinge ich damit wie Zürichs verrückte Alte, aber wenn ich nach einem Regenguss spazieren gehe und Regenwürmer sehe, die sich hilflos auf dem Pflaster winden, hebe ich sie auf und lege sie wieder ins Gras.
Im aktuellen Krimi sieht Brunetti auf Video ein Verhör an und schaltet den Ton ab, um der Körpersprache zu folgen. Arbeiten Sie auch so? Beobachten Sie Menschen im Café oder am Flughafen und formen Figuren daraus?
Das habe ich noch nie bewusst gemacht. Mich interessiert aber immer mehr, was Menschen mit ihrem Körper anstellen. Ich signiere oft Bücher und in der Regel sind die Menschen da toll. Aber so alle fünf Jahre steht jemand vor mir, reicht mir sein Buch, sagt „Für Fritz“ oder „Für Maria“, und irgendetwas in mir mag diesen Menschen nicht. Mich frappiert das Irrationale daran. Ich kenne den Menschen nicht, er stinkt nicht, hat keine zwei Köpfe. Aber irgendetwas Animalisches in mir lehnt ihn ab. Wahrscheinlich wegen der Art, wie er sich gibt. Nach diesen winzigen Zeichen suche ich.
Im neuen Brunetti lassen Sie eine Frau eines natürlichen Todes sterben, in einem Hospiz. Im Krimi ist das ziemlich ungewöhnlich.
Ich vermeide die Schilderung von Tod und Gewalt; das mag ich nicht. Es gibt in meinen Büchern nur wenige Szenen, in denen es gerade passiert. Wenn Brunetti auftaucht, hat er nur mit den Folgen zu tun – mit einer Leiche zum Beispiel. Die Tat beschreibe ich nicht. Das erfährt man alles aus zweiter Hand. Was mich an der Hospiz-Szene interessiert hat, ist das Klischee, wonach Sterbende immer die Wahrheit sagen. Bei mir spricht die Sterbende den Verdacht aus, ihr Mann sei ermordet worden. Und jeder glaubt es. Genauso könnte ich über ihrem Kopf ein Schild mit der Aufschrift „Die Wahrheit“ aufhängen. Weil sie stirbt und wir alle tief überzeugt sind, dass man im Augenblick des Todes nicht lügt. Natürlich ist das eine absurde Idee. Welcher Moment könnte für eine Lüge besser sein?
Brunetti erlebt, wie die Frau stirbt, und und es verfolgt ihn. Er denkt über den Tod seiner Eltern nach und stellt fest: Dass er anwesend war, hat ihn bereichert. Können Sie über dieses Gefühl etwas sagen?
Als Amerikanerin komme ich aus einer kaltschnäuzigen Kultur mit einer falschen Sentimentalität. Amerikaner sterben nicht mehr zu Hause. Italiener tun das noch. Fast alle meine italienischen Freunde haben den Tod einer nahestehenden Person erlebt, des Ehemanns, der Frau, der Eltern. Und jeder einzelne betont, wie sehr ihn das geprägt hat. Wie sehr es seine Vorstellung vom Abschied verändert hat. Alle sprechen mit Ehrerbietung davon, wie von einer heiligen Zeremonie. Die einzige Sache, die mich am Sterben abschreckt, ist die Angst, man könnte allein sein. Im Sterben sollte man jemanden bei sich haben; und wenn es nur die Krankenschwester ist, die deine Hand hält. Der Tod selbst schreckt mich nicht.
Von Daniel Benedict