Für Klaus Allofs, ehemaliger Fußball-Nationalspieler und später Geschäftsführer des VfL Wolfsburg, war es einfach nur „anders“. Rüdiger Fritsch, Präsident des SV...
. Für Klaus Allofs, ehemaliger Fußball-Nationalspieler und später Geschäftsführer des VfL Wolfsburg, war es einfach nur „anders“. Rüdiger Fritsch, Präsident des SV Darmstadt 98, wollte vor dem Spiel gegen Bayern München gar „noch einmal durchwischen“. Und manch einer im Umfeld des südhessischen Traditionsvereins machte nach dem sensationellen Aufstieg der Darmstädter Fußballer in die Bundesliga 2015 den Eindruck, als müsse man sich für das in die Jahre gekommene Stadion am Böllenfalltor schämen – ein bisschen zumindest. Aber die zwei Spielzeiten in der Ersten Liga haben den positiven Ruf des „Bölle“ als besonderes Stadion eher noch verfestigt. Denn hier scheint Fußball noch so, wie er einmal war, ohne Protzerei und Eitelkeiten. Doch trotz aller Nostalgie: Das Böllenfalltor braucht mehr als nur einen neuen Anstrich, will der SV Darmstadt 98 weiter eine Chance auf Profifußball haben.
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Hier wird gejubelt, gelitten und getrauert
In der Brust vieler Anhänger schlagen zwei Herzen. Für sie ist das Böllenfalltor so etwas wie das zweite Wohnzimmer geworden. Anders, nicht mehr zeitgemäß, aber dennoch – oder gerade deswegen – liebenswert und unverwechselbar. Denn wo bald vielleicht Sponsoren ihre Häppchen genießen oder sich der moderne Zuschauer unter schützendem Dach im Polstersessel Getränke servieren lässt, haben Fans Jahrzehnte lang ohne jeglichen Luxus mitgefiebert, gejubelt, getrauert und gelitten. Für sie ist das Böllenfalltor mehr als nur ein Stadion. Hier war und ist so mancher daheim, hat Freundschaften geschlossen, die große Liebe gefunden oder einfach nur die Möglichkeit gehabt, so zu sein wie er ist. Sogar gestorben wurde hier. Grund genug also für einen Blick in die Vergangenheit.
Als der aus England stammende Fußball Ende des 19. Jahrhunderts im Deutschen Reich ankam, deutete sich schnell an, dass dies mehr als nur eine Modeerscheinung sein sollte. So auch in Darmstadt. Am 22. Mai 1898 wurde der Fußballklub Olympia Darmstadt gegründet. Spielort war zunächst der Schlossgartenplatz, ab 1909 spielte der SV 98 auf der Radrennbahn.
Nach dem Ersten Weltkrieg kam es am 11. November 1919 zur Fusion der beiden Darmstädter Vereine, FK Olympia und SC 05. Der neue Verein erhielt den Namen Sportverein Darmstadt 1898, als Vereinsemblem die Lilie und blau-weiß als Vereinsfarben. Nach der Fusion war klar, dass die Platzverhältnisse auf der Radrennbahn nicht mehr ausreichten.
Die Stadt stellte Geld zur Verfügung und am 24. Juli 1921 wurde der Sportplatz am Böllenfalltor mit einer 80 Meter langen überdachten Sitztribüne und Laufbahn eingeweiht. Der Stadionname leitet sich von „Bölle“ ab, einer anderen Bezeichnung für Pappel. Im Süden der Stadt standen viele dieser Bäume und es gab in den umliegenden Wäldern sogenannte Falltore, die sich selbstständig schlossen, wenn man sie durchquert hatte.
Einen ersten sportlichen Höhenflug gab es für den SV 98 nach dem Zweiten Weltkrieg. 1950 gelang überraschend die Meisterschaft in der Landesliga Hessen. Am 9. April 1950 schlugen die Lilien im Hochschulstadion vor 12 000 Zuschauern Viktoria Aschaffenburg 3:2. In der Aufstiegsrunde zur Oberliga Süd, damals die höchste Spielklasse, schaffte der SV 98 die Sensation und setzte sich durch. Zwar folgte umgehend der Abstieg, doch Gegner wie Bayern München oder der VfB Stuttgart hatten Lust auf mehr gemacht.
Süddeutscher Meister nach grandiosem 7:0
Resultat dieser Stimmungslage war die Platzeinweihung des ausgebauten Stadions am Böllenfalltor. Nach Fertigstellung des Marathon-Tores, Ausbau der Stehränge und der Tribüne auf 2000 Sitzplätze wurde das Stadion am 29. Juni 1952 vor 15 000 Zuschauern eröffnet.
Im Juli 1962 führte der DFB die Bundesliga ein. Die Lilien pendelten zwischen den Ligen zwei und drei, ehe 1971/72 Trainer Udo Klug die Verantwortung übernahm. Während seiner Zeit kamen viele heute noch legendäre Spieler nach Darmstadt, allen voran Walter Bechtold.
Der 13. Mai 1973 wurde zu einem ganz besonderen Tag: Vor 20 000 Zuschauern fegten die Lilien den 1. FC Nürnberg mit einem grandiosen 7:0 am Böllenfalltor regelrecht vom Platz und errangen die süddeutsche Meisterschaft. Letztlich reichte es trotz Teilnahme an der Aufstiegsrunde nicht für die Bundesliga, doch der Verein qualifizierte sich kurz darauf für die neue Zweite Bundesliga. Am 8. November 1975 wurde zudem die neue Tribüne eingeweiht. Diese war 105 Meter lang und bot knapp 4000 Zuschauern Sitzplätze.
In der Spielzeit 1977/78 überraschten die Lilien, legten nach mäßiger Vorrunde zwölf Siege in Folge hin und machten mit einem 6:1 beim FK Pirmasens den Bundesligaaufstieg perfekt. Danach musste auf Veranlassung des DFB die Kapazität des Stadions auf 30 000 Zuschauer ausgebaut werden. Mit Hilfe der Stadt wurde im Juli 1978 die auf Kriegsschutt errichtete Gegengerade erhöht und erhielt ihr heute noch imposantes Aussehen, das auch auf die Spieler Eindruck machte. „Von dort ging eine enorme Kraft aus“, erinnert sich Carsten Lakies, in den Neunzigern und Anfang 2000 bei den Lilien aktiv.
Sportlich überzeugte die Mannschaft aus „Feierabendprofis“ (alle Spieler gingen einer Arbeit nach) in der Bundesliga durchaus, stieg aber dennoch sofort wieder ab. Bereits 1981/82 folgte der erneute Aufstieg. Der DFB machte damals die Auflage, eine Flutlichtanlage zu installieren, für die die Stadt keinen Zuschuss gab. Was blieb, waren am Ende der zweiten Bundesliga-Saison Platz 17, der Abstieg und ein Schuldenberg.
In den folgenden Jahren wurden zwar große Anstrengungen unternommen, um die Mannschaft erneut konkurrenzfähig zu machen. Unter anderem kam 1983 der CSSR-Rekordnationalspieler Zdenek Nehoda (Europameister 1976) von Dukla Prag nach Darmstadt. Doch sportlich wollte wenig gelingen, der Schuldenstand wuchs auf über 8 Millionen Mark an.
Erst der Höhenflug 2015 bringt wieder Bewegung
Eine Folge war der Verkauf des Stadions an die Stadt. Seither hat es lange keine großen Veränderungen im Stadion mehr gegeben, durch den Absturz bis in die vierte Liga war dies politisch auch nicht durchsetzbar. Das Böllenfalltor begann zu verfallen. Aufgrund von Sicherheitsbedenken sank die zugelassene Zuschauerzahl immer weiter.
Bewegung in der Stadionfrage gab es erst durch den unerwarteten Höhenflug, der die Lilien 2015 erneut in die Bundesliga führte. Mittlerweile sind anstatt der bisherigen Kurven neue, wenn auch provisorische, Tribünen entstanden. Zudem wurden eine Rasenheizung und eine moderne LED-Anzeigetafel installiert. Gespielt wird trotzdem nur mit Ausnahmegenehmigung des DFB.
Substanz und Innenleben des „Bölle“ sind nahezu unverändert geblieben. Was auch daran liegt, dass über Jahre immer wieder überlegt wurde, das Stadion an anderer Stelle neu zu errichten. Mittlerweile sind diese Pläne vom Tisch. Das Stadion soll – unter Federführung des Vereins, der es gegen Erbpacht von der Stadt mietet – an seinem angestammten Ort umgebaut werden. Dagegen hat auch bei den Anhängern niemand etwas. Aber wie auch immer das Stadion nach dem Umbau aussehen wird: Ein bisschen „anders“ als andere darf das „Bölle“ gerne bleiben.
Von Wolfgang Knöß