Die digitale Arbeitswelt verlangt von Mitarbeitern mehr Mobilität und Flexibilität. Das hat fatale Folgen, warnt unser Autor.
Von Karlheinz Geißler
Foto: iracosma - adobe.stock
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Für die meisten Zeitgenossen, denen das Wort „Feierabend“ noch etwas sagt, wird mit dieser Metapher das Ende des Arbeitstages markiert, für andere beginnt mit dem Feierabend die Freizeit, Zeit, die man mit der Familie verbringt, oder es fängt das an, was die Amerikaner „Quality Time“ nennen. Ähnlich verschieden sind auch die Bilder und Szenen, die der Begriff „Feierabend“ hervorruft. Sie reichen vom erschöpft im Ohrensessel dösenden Familienvater über Männer, die sich tagtäglich ihren Dämmerschoppen in ihrer Stammkneipe genehmigen, bis hin, zu Szenen abgearbeiteter Werktätiger, die durchs Fabriktor eilend, der untergehenden Sonne entgegen, auf die Straße strömen.
Der Feierabend hat eine Geschichte, in der er eine Menge unterschiedlicher Fußabdrücke hinterlassen hat. Die weitaus längste Zeit der Menschheitsgeschichte kannte man ihn gar nicht. Dann wiederum gab es Zeiten, da wurde er geliebt und gefeiert, aber es gab auch Epochen, die es nicht so gut mit ihm meinten, in denen er ignoriert und für überflüssig erklärt wurde. Schauen wir etwas genauer auf seine bewegte Bedeutungsgeschichte:
Vormoderne
Die Suche nach den Ursprüngen beginnt gewöhnlich, wenn nicht bereits in Luxor, dann im alten Athen oder zumindest in Rom. Doch weder die Ägypter, noch die Griechen und auch nicht die Römer kannten so etwas wie einen Feierabend. Nicht als Zeitinstitution und deshalb auch nicht als Begriff. Der „Feierabend“ stammt aus der vormodernen mitteleuropäischen Welt christianisierter Bauern und Handwerker. Die Sprachgeschichte kennt ihn seit dem 12. Jahrhundert als den vîr-âbend, den Vorabend zu den damals häufigen Feiertagen. Bis heute übrig geblieben ist der Heilige Abend, der feierliche Anlauf zur Feier des Weihnachtsfestes.
Hörbar wurde der Feierabend von Beginn an durch das Feierabendläuten, das sich in ländlichen Gebieten bis heute als „Samstagsläuten“ erhalten hat. Das den Feierabend einläutende Glockenritual war einstmals Teil einer hochdifferenzierten, hörbaren Zeitkultur, die die Menschen durch jene Zeiten leiteten, die weder mechanische Uhren noch Computer oder Smartphones kannten. Die Hauptaufgabe der Zeitinstitution „Feierabend“ bestand in der Markierung und der gemeinschaftsfördernden Ritualisierung des Übergangs zwischen den kollektiven Ereignissen Arbeit und Feier/Fest. Feierabend war die Zeit der Vorbereitung und der Einstimmung auf kommende festliche und feierliche Ereignisse. Die Einbettung des feierabendlichen Übergangs in Traditionen, Zeremonien und Rituale sorgte für eine hohe Verbindlichkeit seiner Praxis. Und so ist es denn auch kein Wunder, dass der Feierabend eine Patronin hatte und diese bis heute besitzt. Es handelt sich um die 1313 gestorbene Notburga, die einzige Heilige Tirols, die jedoch erst 1862, als der Feierabend jenseits des Vatikans bereits ein ganz anderer war, von Papst Pius IX heilig gesprochen wurde.
DER AUTOR
Prof. Dr. Karlheinz Geißler, geboren 1944 in Deuerling/Oberpfalz, ist emeritierter Professor für Wirtschaftspädagogik, Buchautor und Zeitforscher. Geißler lebt seit mehr als dreißig Jahren ohne Uhr. Er ist Mitgründer der Deutschen Gesellschaft für Zeitpolitik und leitet das Institut für Zeitberatung „timesandmore“, das Vorträge, Workshops und Coachings zum Thema anbietet, bei dem auch sein Sohn Jonas Geißler arbeitet. Zusammen veröffentlichten die beiden 2015 das Buch „Time is honey. Vom klugen Umgang mit der Zeit“ (Okoem-Verlag). Karlheinz Geißler ist verheiratet und wohnt in München. Der Text ist erstmals auf der Webseite von timesandmore erschienen.
Moderne
War die Übergangsinstitution „Feierabend“ in der Vormoderne vor allem an himmlischen Abläufen ausgerichtet, wird der „Feierabend“ in der dann folgenden Uhrzeitmoderne zu einem irdischen Ereignis. Er wird zu einer Institution des zeitlichen Übergangs zwischen unverfügbaren Zeiten (Erwerbssphäre) und verfügbaren Zeiten (Freizeit). Dabei gehen die Feierabendtraditionen, meist aus ordnungspolitischen Gründen, eine eingetragene Partnerschaft mit weltlichen Regeln, Verordnungen und Gesetzen ein. Diese heißen etwa „Sperrstunde“ „Ladenschlusszeiten“, „tarifvertraglich geregelter Arbeitsschluss“.
Nicht mehr „Feier“ und „Fest“ sind die Ziele und Zwecke des feierabendlichen Übergangs, sondern die „Freizeit“, die in der Alliteration: „Fernsehen, Filzpantoffel, Flaschenbier“ ihren polemischen Ausdruck findet. War der Feierabend in der Vormoderne Zeitgeber einer rhythmisierten Lebenswelt, so wird er in der Moderne zu einem Zeitsignal, das der zunehmenden Taktung des Alltags zuarbeitet. Es sind nun weniger Traditionen, eher ist es die Alltagstaktung der Industriegesellschaft, die den Feierabend weiter am Leben hält. Typisch dafür die Einführung von Feierabend-Tarifen im Kommunikations- und Verkehrswesen.
Doch auch der vormoderne Feierabend spielt in der Uhrzeitmoderne weiterhin eine Rolle. Je härter, je zehrender die industrielle Arbeitswelt, umso mehr wird der Feierabend für die Werktätigen zu einem gegenweltlichen Sehnsuchtsort, der oftmals in Kooperation mit der Kuckucksuhr das kompensatorische Bedürfnis nach intakter, rhythmischer Zeiterfahrung zu befriedigen weiß. Vor-Bilder zu den in diesem Zusammenhang beliebten biedermeierlichen Feierabend-Idyllen des privaten Glücks im Ohrensessel bei gedämpftem Licht liefern spätromantische Künstler. Allen voran der Zeichner Ludwig Richter und der Maler Carl Spitzweg.
Postmoderne
Die auch als Spätmoderne bekannte Postmoderne, das sind die Zeiten der Gegenwart, machen Feierabend mit dem Feierabend. Wie auch das Mittagsläuten, der Sendeschluss am Ende des Fernsehabends und die Vesper, die Zwischenmahlzeit am Nachmittag, zählt der Feierabend heute zu den verloren gegangenen Zeitsignalen der Alltagsordnung.
Freie Wochenenden und Feierabende kennen daher viele jüngere Zeitgenossen nur mehr aus Erzählungen ihrer Eltern „von früher“. Der Unterschied zwischen Sonn- und Werktag, den die Generation „Smartphone“ zuweilen irrtümlich für eine Erfindung der Gewerkschaften hält, ist ihnen weitestgehend unbekannt.
Der spätmoderne Alltagskult wird nicht mehr durch Sonnenaufgänge und Sonnenuntergänge strukturiert, weder im Privat- noch im Arbeitsleben. Er kennt keine Arbeitsruhe, kein Anhalten; Pausen sind ihm auch fremd. Aus den traditionellen Ruhe- und Rückzugsarealen in häuslichen Wohnzimmern sind, da sich die Arbeit inzwischen zeitlich und räumlich zerfranst hat, so etwas wie Außenstellen von Firmen mit weltweit vernetzten Multimedia-Arbeitsplätzen geworden.
Traditionelle Zeitinstitutionen fallen den Dynamiken der Flexibilisierung zum Opfer. Dazu gehören neben dem arbeitsfreien Wochenende und dem einkaufsfreien Sonntag auch der einst „Feierabend“ genannte tägliche Arbeitsabschluss. Abgelöst wird in unserer digitalmodernisierten Arbeitswelt die Zeitinstitution „Feierabend“ mehr und mehr vom Konzept der „zeitoffenen Projektarbeit“. Sucht man zeitliche Orientierungen im Alltagsleben, dann sucht man sie heute nicht mehr länger bei Traditionen.
Im Süden Deutschlands kennt man für dieses oftmals anstrengende episodische und situationsflexible Agieren und Reagieren in unsicherem Gelände die Vokabel »Durchwursteln«. Das „Durchwursteln“ des Multimedianutzers unserer Tage geschieht in flexibler, mobiler, dezentraler und befristeter Art und Weise. Er jongliert mit den Zeitmustern Takt und Rhythmus in multipel fragmentierten Zusammenhängen und Zeitqualitäten wie der Artist im Zirkus mit seinen Bällen, immer in dem Bestreben, die individuellen Handlungsspielräume zu vergrößern.
Immer weniger Institutionen entlasten in dieser unserer Digitalmoderne von den Mühen, dem zeitlichen Dasein eine Gestalt zu verleihen, die Zeitfreude, Lebenszufriedenheit und zeitliches Wohlergehen garantiert. Ohne Feierabend jedoch ist das Zeitleben vom Glück soweit entfernt, wie das Leben einer Arbeitsbiene vom Hochzeitsflug einer Bienenkönigin.