Das Ich im Wir: Für Zwillinge ist es besonders wichtig, ihre Einzigartigkeit zum Ausdruck zu bringen
Der Anteil der Mehrlingskinder liegt in Deutschland auf einem Rekordhoch: Jedes 27. Neugeborene war im Jahr 2014 ein Mehrlingskind. Gerade für Zwillinge ist es dabei besonders wichtig, ihre Einzigartigkeit zum Ausdruck zu bringen. Und ihre Eltern sollten sie dabei unterstützen.
Von Rita Haberkorn
Bis ins Alter hinein verbindet die Zwillinge Gustav und Erich Walter (an der Geige) die Musik. Foto: Dennis Möbus
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RHEIN-MAIN - Der Anteil der Mehrlingskinder liegt in Deutschland auf einem Rekordhoch: Jedes 27. Neugeborene war im Jahr 2014 ein Mehrlingskind, so die Zahlen des Statistischen Bundesamtes. Unter den gut 700.000 Neugeborenen waren knapp 27.000 Mehrlingskinder (25.954 Zwillinge, 846 Drillinge sowie 44 Vierlinge). Das steigende Alter von Müttern und künstliche Befruchtungen gelten als Hauptgründe für die Zunahme.
Zur Realität der in Deutschland bevorzugten Zweikindfamilie gehört es, dass in der Regel nach einer Zwillingsgeburt keine weitere Schwangerschaft gewünscht wird. Das heißt, Zwillinge wachsen heute viel häufiger als früher ohne weitere Geschwister auf. Die Folge: Die Zwillinge sind damit nicht gefordert, ihre Paarbeziehung für andere Geschwister zu öffnen.
Ob eineiig oder zweieiig, jedes Kind ist einzigartig
Gerade bei eineiigen Zwillingen beginnt diese intensive Beziehung schon im Mutterleib. Sie teilen sich in der Regel Fruchtblase und Plazenta. Durch diesen „Verteilungskampf“ um die besseren Wachstumsbedingungen werden sie mit einem größeren Gewichtsunterschied geboren als zweieiige Zwillinge. Schon bei der Geburt sind neben frappierenden Ähnlichkeiten also auch Unterschiede zu erkennen. Ob eineiig oder zweieiig, jedes Kind ist einzigartig und wird irgendwann in seinem Leben dies der Umwelt und vor allem auch dem Zwillingsgeschwister gegenüber deutlich machen wollen. Inwieweit sie ihre unterschiedlichen Stärken und Temperamente später ausleben dürfen, hängt vor allem von den Eltern ab. Doch schon, wenn diese ihre Kinder – vor allem bei Mädchen häufig zu beobachten – in identische Kleidung stecken, wird der Außenwelt signalisiert: Wir sind gleich.
Kita und Schule
- Der Kindergarten mit einem teiloffenen Konzept (klare Zugehörigkeit zu verschiedenen Gruppen mit ihren Erzieher/innen und gleichzeitig sich im ganzen Haus bewegen dürfen) bietet ein Erfahrungs- und Übungsfeld, in dem Zwillingsgeschwister sich zunehmend auf eigene Wege begeben.
- Haben die Zwillinge bereits gelernt, sich ohne den anderen in einer Gruppe zu bewegen, bieten sich verschiedene Grundschulklassen an. Die jeweiligen Klassenlehrer sehen den einen Zwilling unabhängig vom Geschwister – auch bei Elterngesprächen.
- Spätestens aber in der weiterführenden Schule sollten Zwillinge sich aus dem Weg gehen können. Nur so wird es ihnen möglich sein, sich über die eigene Leistung – nicht im Verhältnis zum Zwillingsgeschwister – zu definieren.
Je ähnlicher sie sich äußerlich zeigen, und je weniger Eltern und andere ihre Einzigartigkeit wahrnehmen und unterstützen, umso schwieriger wird für die beiden der Weg in die Individualität.
Zwillinge werden sehr viel häufiger im Plural angesprochen als verschieden alte Geschwister, deren unterschiedliche Bedürfnisse man von vornherein unterstellt. „Wollt Ihr ...“ statt „Willst Du ...“ lautet die Frage, die die Forderung an die Geschwister beinhaltet, den eigenen Wunsch zunächst mit dem anderen Geschwister abzustimmen.
Einerseits entwickeln Zwillinge damit die für jedes Zusammenleben bedeutsame Fähigkeit, aufeinander einzugehen – und verinnerlichen das auch. So antwortete mein damals vierjähriger Zwillingssohn selbst auf jene Frage: „Ich muss erst mal die Hannah fragen, was wir wollen.“ Andererseits wollen sie eigene Wünsche und Bedürfnisse äußern und leben können, auch wenn sie nicht im Einklang mit dem anderen Zwilling stehen. Oft kommt es deshalb zu Konflikten. Denn in der Regel entwickeln die beiden Kinder sehr unterschiedliche Bedürfnisse. So kann es etwa sein, dass die Schwester mit einer bunten Kinderschar Geburtstag feiern möchte, ihr Bruder aber lieber mit wenigen Freunden etwas unternehmen würde. Hier bieten sich Kindergeburtstage nach den je eigenen Vorstellungen an.
Herausforderung für die Eltern: Jedem Kind gerecht zu werden
Natürlich zeigen die Zwillinge vor allem im Alltag, im Spiel oder in ihren Hobbies, wo ihre Bedürfnisse, Stärken und Interessen liegen. Wenn Eltern ihre Kinder einfühlsam begleiten, können sie darauf vertrauen, dass die beiden ihre individuellen Interessen zeigen und bestrebt sind ihnen zu folgen – auch ohne das Zwillingsgeschwister. Jedem Kind dabei gerecht zu werden ist eine der größten Herausforderungen für Eltern.
Während Zwillinge in ihrer frühen Kindheit die Krippe gemeinsam besuchen und damit die Eingewöhnung und die stundenweise Verabschiedung der Eltern leichter meistern, bietet das Leben im Kindergarten die Möglichkeit des punktuellen Abschieds vom Geschwisterkind. Die Schule wiederum ist in ihrer Struktur auf vergleichende Leistungserwartungen angelegt und provoziert in der Regel Konkurrenz (siehe Infokasten). Das kann Erfolg und Misserfolg im Verhältnis zum anderen bedeuten, wenn beide die gleiche Klasse besuchen.
In der Pubertät gilt: Der biologische Teil der Pubertät ist bei eineiigen Zwillingen gleichen Geschlechts relativ identisch, aber der psychische und damit der entscheidende Prozess in der Persönlichkeitsentwicklung verläuft in der Regel unterschiedlich. In jedem Fall verfügen sie über unterschiedliche Temperamente. Doch um diese Unverwechselbarkeit in ihrer Pubertät deutlich machen zu können, müssen gerade gleichgeschlechtliche, äußerlich sehr ähnliche Zwillingspaare viel Kraft aufwenden. Die Nähe zum anderen Zwilling kann in dieser Zeit der Suche nach mehr Eigenständigkeit dann bedrohlich wirken. Stattdessen müssen sie sich ein Stück innerlich voneinander zu entfernen, um dann auch unabhängiger zu werden.
Auch Paten können helfen, das Besondere zu betonen
Dabei gilt wie grundsätzlich bei Zwillingen: Jede Konstellation hat eigene Gesetzmäßigkeiten. Wir Erwachsene begleiten sie in ihrem Älterwerden und können darauf vertrauen, dass jedes der beiden zeigt, was ihnen wichtig ist. Sie tun dies allerdings um so eher, wenn wir Erwachsene ihnen signalisieren, auf ihre individuellen Bedürfnisse glaubwürdig zu reagieren. Dieser gemeinsame Weg ist ein besonderer Auftrag. Vor allem für Eltern, aber auch für andere Personen, wie zum Beispiel Paten. Meine Zwillingstochter Hannah, selbst Patin eines Zwillingsmädchens hat es so formuliert: „Meine Eltern und Großeltern waren immer darauf bedacht, meinen Zwillingsbruder und mich mit der gleichen Liebe und Aufmerksamkeit zu beschenken. Als Kind fand ich es daher besonders toll, dass ich für meine Patentante immer etwas Besonderes war – gerade am Geburtstag. Jetzt habe ich selbst ein Zwillingsgeschwister als Patenkind und versuche sie ebenfalls diese Besonderheit spüren zu lassen.“
Die Wiesbadener Autorin ist Mutter von Zwillingen, Pädagogin und Autorin von Sachbüchern.