Die Türkei entführt Regierungsgegner aus dem Ausland. Ankara fühlt sich durch die Untätigkeit des Westens ermuntert - und nimmt die USA als Vorbild.
ISTANBUL. Nachts um halb zwei hämmerten Unbekannte an die Wohnungstür der türkischen Familie Kacmaz in Lahore in Pakistan. "15 bis 20 Mann stürmten herein, sie sagten, sie seien vom Anti-Terror-Kommando und würden die ganze Familie mitnehmen", berichtete die Lehrerin Meral Kacmaz später. Als sie und ihr Mann Mesut sich weigerten, packten die Männer die Töchter des Ehepaares und schleiften sie aus der Wohnung. "Dann haben sie uns in Autos gezwungen, jeden einzeln und getrennt voneinander."
Über hundert Regimegegner im Ausland ergriffen
Als die Familie im September 2017 aus ihrer Wohnung in Lahore entführt wurde, arbeiteten Meral und Mesut in der pakistanischen Stadt an einer Schule, die dem Netzwerk des türkischen Predigers Fethullah Gülen zugerechnet wird, einem einstigen Verbündeten des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan. Seit einigen Jahren wird Gülen von der Türkei als Terrorist bezeichnet, seit dem Putschversuch von 2016 werden seine Anhänger von der Türkei als Terroristen verfolgt - nicht nur im Inland, sondern zunehmend auch im Ausland. Meral und Mesut Kacmaz wurden inzwischen freigelassen, doch die meisten Opfer verschwinden in türkischen Gefängnissen.
Mehr als hundert Regimegegner hat die Türkei in den vergangenen fünf Jahren im Ausland ergriffen und verschleppt. Ankara folgt damit einem Trend, der sich bei autoritären Regimes in aller Welt verbreitet - und zwar so dramatisch, dass Menschenrechtler inzwischen einen Fachbegriff dafür geprägt haben: "Transnational Repression" lautet er auf Englisch - auf Deutsch: Unterdrückung ohne Grenzen.
Die amerikanische Menschenrechtsorganisation Freedom House legte im Frühjahr eine Studie vor, die das weltweite Ausmaß der grenzüberschreitenden Verfolgung von Dissidenten deutlich machte. "Wir haben 31 Ursprungsländer gezählt, die Exilanten mit solchen Methoden verfolgen, und 79 Gastländer, die dabei kooperieren", sagte Forschungsdirektor Nate Shenkkan bei der Vorstellung der Studie. "Es handelt sich also um ein wahrhaft globales Phänomen."
Zu den bekanntesten Fällen von Unterdrückung ohne Grenzen gehört die Ermordung des saudischen Dissidenten Jamal Kashoggi durch ein saudisches Killerkommando in Istanbul im Jahr 2018. Grenzüberschreitende Verfolgung von Dissidenten ist zwar nicht neu, doch bis zum Ende des 20. Jahrhunderts blieb sie auf Einzelfälle beschränkt. Erst im neuen Jahrhundert und verstärkt in den letzten Jahren eskaliert die weltweite Verfolgung von Dissidenten.
Der Politikwissenschaftler Alexander Cooley von der amerikanischen Columbia-Universität erklärte dies bei einer Anhörung im US-Kongress mit einer Gegenreaktion autokratischer Regime auf die demokratischen Bewegungen der 1990er und frühen 2000er Jahre. Die demokratische Opposition und die Zivilgesellschaft würden von den Herrschenden als Bedrohungen der nationalen Sicherheit dargestellt. "Wenn Oppositionelle dann ins Ausland fliehen, verfolgen diese Autokraten sie aggressiv ins Exil."
Das Vorbild für die moderne Unterdrückung ohne Grenzen stammt aber nicht von einer Diktatur, sondern von der westlichen Führungsmacht USA. Viele autoritäre Staaten beziehen sich bei der Verfolgung von Regimegegnern auf den sogenannten US-Krieg gegen den Terror. Nach dem Anschlag auf das World Trade Center 2001 ließ die amerikanische Regierung weltweit Islamisten unter Terrorvorwürfen festnehmen und ohne Auslieferungsverfahren an rechtsstaatlich zweifelhafte Regierungen im Nahen Osten überstellen oder im rechtsfreien Lager Guantánamo auf Kuba einsperren. "Weltweit nutzen Staaten den Terrorismus-Begriff jetzt als Knüppel, um Rechte außer Kraft zu setzen und Oppositionskräfte im Ausland zu verfolgen", hat Shenkkan beobachtet.
Weltweit verschleppt kein Land mehr Dissidenten als die Türkei, wie Freedom House festgestellt hat. Das macht inzwischen auch den Vereinten Nationen Sorgen. In einem gemeinsamen Brief wandten sich im vergangenen Jahr die UN-Sonderberichterstatter für Folter, Verschleppung, Migrantenrechte und Menschenrechte bei der Terrorbekämpfung an die türkische Regierung. "Wir haben Informationen über eine offenbar systematische Praxis staatlich geförderter extraterritorialer Entführung und Zwangsrückführungen türkischer Staatsbürger aus zahlreichen Staaten in die Türkei", hieß es in dem Schreiben. Die Opfer würden "willkürlich festgenommen, inhaftiert und gefoltert".
Prügel, Waterboarding und Elektroschocks
Mehrere Staaten, besonders in Afrika, Asien und dem Nahen Osten, helfen der Türkei dabei, wie die UN-Berichterstatter feststellten. Nach ihren Erkenntnissen spionieren die Gastländer unter dem Druck der Türkei die Dissidenten aus und lassen sie von Agenten verschleppen. Vor der Deportation in die Türkei bleiben die Opfer dann wochenlang verschwunden. "In dieser Zeit sind sie oft Nötigung, Folter und Erniedrigungen ausgesetzt, um ihre Zustimmung zur Verbringung in die Türkei zu erzwingen oder ihnen Geständnisse abzupressen", schrieben die UN-Experten. Opfer berichten demnach von Folter durch Schlafentzug, Prügel, Waterboarding und Elektroschocks.
Das Muster ist auch im jüngsten Fall erkennbar: Orhan Inandi, ein türkischstämmiger Schulleiter im zentralasiatischen Kirgistan, wurde im Juni in Bischkek auf offener Straße entführt und blieb wochenlang verschwunden. Inandi lebte seit 25 Jahren in Kirgistan und arbeitete dort ebenfalls für eine Schule aus dem Gülen-Netzwerk. Mehr als einen Monat nach seiner Entführung tauchte Inandi wieder auf - in der Türkei. Ein Foto, das die türkische Regierung an die Medien verteilte, zeigte den 53-Jährigen erschöpft und abgemagert vor einer türkischen Fahne; seine rechte Hand war geschwollen und blau angelaufen. Nach Angaben seiner Frau war sein rechter Arm mehrfach gebrochen. Staatspräsident Erdogan verkündete die Nachricht von der Festnahme nach einer Kabinettsitzung: Inandi sei der "Zentralasien-Beauftragte der Fethullah-Gülen-Terrororganisation" gewesen, sagte Erdogan. Mehr als hundert Menschen habe die Türkei schon so ergriffen, bestätigte der türkische Präsident.
Dass die türkische Regierung sich offen zu den ungesetzlichen Entführungen aus dem Ausland bekennt, sei selbst unter repressiven Staaten ungewöhnlich, sagt Shenkkan von Freedom House. "Das ist eine neue Qualität für die Türkei und für die Welt. Wir haben es hier mit einem Land zu tun, das sich offen mit seiner Entführungskampagne brüstet."
Internationale Proteste oder gar EU-Sanktionen wie gegen Belarus nach der erzwungenen Landung einer Verkehrsmaschine mit einem Dissidenten an Bord im Mai hat die Türkei dafür bisher nicht erfahren. Im Gegenteil, kritisierte Shenkkan kürzlich im Gespräch mit der türkischen Exilanten-Plattform Ahval: Ihre widerrechtlichen Verschleppungen würden auf internationalem Parkett mit diplomatischer Diskretion übergangen. "Diese Entführungen sind gut dokumentiert, und dennoch spielen sie keine Rolle in den bilateralen Beziehungen der Türkei, selbst zu ihren wichtigsten Verbündeten wie den USA, Frankreich oder Deutschland - das Thema kommt nicht auf den Tisch", sagte Shenkkan. "Das gibt Ankara das Gefühl: Ja klar, wir können das einfach tun."
Bis nach Europa reicht der lange Arm der Türkei bereits: Albanien und Kosovo zählen zu den Ländern, aus denen türkische Regierungsgegner ohne Rechtsverfahren in die Türkei gebracht worden sind. In die Europäische Union wagen sich die Häscher bisher nicht, doch Anlass zur Beunruhigung haben türkische Dissidenten und Regierungsgegner selbst in Deutschland. So veröffentlichte die staatliche türkische Nachrichtenagentur Anadolu die angebliche Berliner Wohnadresse des Gülenisten Adil Öksüz, der als einer der Anführer der Putschisten von 2016 verfolgt wird. Der türkische Innenminister Süleyman Soylu sagte erst kürzlich wieder, er wisse ganz genau, wo Öksüz sei.