Mehr als 80 Prozent der Kinder bewegen sich nicht genug

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Körperliche Betätigung ist wichtig, besonders in der Entwicklung. In den letzten Jahren leiden viele Kinder und Jugendliche jedoch unter Bewegungsmangel. Foto: VRM-Archiv

Sport ist auch wichtig für den Geist: Die Mainzer Sportwissenschaftlerin Swantje Scharenberg über Bewegungsmangel - und was Familien sowie Schulen dagegen tun können.

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WIESBADEN. Die Mainzer Sportwissenschaftlerin Swantje Scharenberg leitet das deutschlandweit einzige Forschungszentrum für den Schulsport und Sport von Kindern und Jugendlichen (FoSS), eine interinstitutionelle Einrichtung des Karlsruher Instituts für Technologie und der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe.

Frau Scharenberg, wie fit sind unsere Kinder und Jugendlichen? Die nationale Bewegungsempfehlung sieht vor, dass sich Kinder 60 bis 90 Minuten täglich aktiv bewegen sollten. Das schaffen in Deutschland gerade noch etwa 18 Prozent der Kinder – dabei zählt sogar schon der Fußweg zur Schule mit. Vor fünf Jahren sah die Situation noch wesentlich besser aus. Die Spanne zwischen den unfitten Kindern und den Kindern, die leistungssportlich gefördert werden, wird immer größer.

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Die Kiggs-Studie des RKI zeigt: Es gibt immer mehr motorisch auffällige Kinder. Welche Auffälligkeiten sind das? Sichtbar wird das bereits bei der Alltagsmotorik, wie beispielsweise beim Gehen: Motorisch auffällige Kinder können nicht mehr rund gehen, also eine sogenannte zyklische Bewegung nicht mehr ausführen. Es mangelt ihnen schlicht an koordinativen Kompetenzen.

Welche Ursachen hat das? Die Umwelt und auch das Elternverhalten haben sich verändert. Die Kinder werden zum Teil sehr stark durch ihre Eltern reglementiert und betreut: Es wird genau aufgepasst, was sie machen, der Tag wird getaktet durch die Eltern. Zudem haben wir in den Städten mehr Verkehr und weniger Bewegungsmöglichkeiten – und dadurch auch weniger Bewegungsanreize. Wenn man sich beispielsweise anschaut, wo die meisten Parkplätze belegt sind, ist das immer direkt vor dem Gebäude, sodass man möglichst keinen Schritt machen muss. Wir vermeiden Bewegung, aber eigentlich sollten wir das genau umgekehrt machen und als Erwachsene den Kindern das auch vorleben.

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Welche Bedeutung hat Bewegung für die geistige Entwicklung? Es gibt eine Verbindung zwischen Bewegung und Lernen. Es ist nachgewiesen, dass beispielsweise durch einen erhöhten Blutfluss – durch körperliche Aktivität bringen wir ja den Kreislauf voran – die Denkleistung gefördert wird. Wir schaffen Verknüpfungen im Hirn, auf die wir lebenslang zurückgreifen können.

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Bieten nicht Konsolen-Spiele und Wii mit Tanzen und Bewegungsspielen eine gute Alternative für Stadtkinder? Bewegung ist mehr als einfach nur die Motorik. Es geht auch um soziales Miteinander, voneinander zu lernen, unsere eigenen Grenzen immer wieder zu verschieben. Sport hilft auch dabei, schwierige Phasen zu überwinden. Wenn sich vieles in der Familie ändert und der Sport gleich bleibt, habe ich da eine Konstante, auf die ich mich zurückziehen kann. Das haben sie bei einem Konsolenspiel oder dem Tanzen vor dem Bildschirm nicht. Wir merken gerade jetzt in der Corona-Zeit, dass der soziale Austausch zwischen Gleichaltrigen fehlt.

Inwiefern beeinflussen Eltern ihre Kinder beim Thema Bewegung? Die Kinder haben ja zunächst nur eine geringe Zahl von Menschen, mit denen sie Kontakt haben und die sie imitieren können. Und wenn mein Bild, was ich gegenüber habe – also meine Eltern – sich auf die Couch fläzen und nichts tun, mache ich das genauso. Zudem kann ich als Elternteil versuchen, immer neue Bewegungsanreize zu schaffen. Beispielsweise nicht direkt vor dem Supermarkt zu parken, und das Kind nicht in den Einkaufswagen setzen, um es durch den Supermarkt zu schieben, sondern es selber laufen zu lassen.

Was können Eltern tun, damit sich Kinder mehr bewegen? Und gibt es „gute“ Bewegung? Gute oder schlechte Bewegung gibt es nicht. Alles, was das Kind gerne macht, ist gute Bewegung. Eltern sind ja häufig auch berufstätig und haben daher nicht die Möglichkeit, die Kinder permanent zu beaufsichtigen. Deshalb ist es sinnvoll, die Kinder sich unter Aufsicht bewegen zu lassen: Einerseits in Vereinen, andererseits in der Schule im Ganztagsbereich – beispielsweise indem sie darauf achten, auch eine Bewegungs-AG zu wählen.

Viele Kinder sind ja heute schon früh in Krippe, Kindertagesstätte oder Hort: Welche Rollen kommen den Betreuungs- und Bildungseinrichtungen bei der motorischen Entwicklung zu? In den Kitas haben wir noch zu wenig Bewegung, seit einigen Jahren wird versucht, das zu ändern. Aber Erzieher haben sehr viele Aufgaben, die sie leisten müssen – und das kommt noch hinzu. Es wird nicht so gesehen, dass Bewegung in den Kita-Alltag integriert werden kann und auch für die Entwicklung in den anderen Bereichen hilfreich ist. Und in den Grundschulen haben wir das Ein-Lehrer-Prinzip. Die meisten Grundschullehrer haben aber keine Ausbildung in Bewegung, Spiel und Sport – deshalb ist auch hier noch viel Luft nach oben.

Was könnte in Schulen und Kitas verbessert werden? Eine gute Option ist, dass Übungsleiter aus den Vereinen in die Grundschulen oder Kindertagesstätten hineingehen und mit den Kindern arbeiten. Das heißt, wir holen uns Kompetenz von außen ein – das wird von vielen Städten und Gemeinden auch finanziell unterstützt. Das finde ich toll, weil es zeigt: Hier haben wir ein Defizit identifiziert und arbeiten nachhaltig lösungsorientiert. Das wird auch gut von den Schulen angenommen und partnerschaftlich realisiert.

Machen andere Länder das besser? Die skandinavischen Länder sind da schon weiter und haben ganz andere Programme als wir – und das zeigt sich dann ja auch in den Pisa-Ergebnissen. International wird sehr stark darauf geachtet, dass Bewegung mehr in den Schulalltag von Kindern im Grundschulalter integriert wird. Und zwar nicht nur im Sportunterricht, sondern dass eben auch bei Mathe oder Deutsch immer wieder zu Bewegung angeregt wird – auch in den Pausen.

Welchen Sport haben Sie in der Schule gehasst? Tatsächlich keinen. Ich komme aus einer Sportlerfamilie und habe von klein auf eine vielfältige motorische Grundausbildung genossen – wie sie eigentlich jedes Kind erhalten sollte. Gerätturnen, Leichtathletik, Spiele – besonders Völkerball – habe ich geliebt!