Der erste Job. Der erste Lohn. So ist das für alle Heranwachsende. Für fast alle. Heim- und Pflegekinder müssen von 1 Euro 75 Cent abgeben.
Von Mario Thurnes
Von jedem verdienten Euro in der Ausbildung müssen Heimkinder 75 Cent abgeben.
(Symbolfoto: dpa)
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BERLIN - Heimkinder sind wenig gebildet, kriminell und kosten viel Geld. Das sind gängige Klischees, wie Betroffene aus Sachsen herausgefunden haben. Im Rahmen eines Projektes sind sie selbst auf die Straße gegangen und haben zufällig Vorbeikommende gefragt, was denen zu Heimkindern einfällt.
Die so gesammelten Eindrücke sind Teil einer Ausstellung geworden. Diese soll auf die Situation der Betroffenen aufmerksam machen. „Heimkinder werden auch heute noch in Schubladen gesteckt“, sagte Initiator Björn Redmann vom Kinder- und Jugendhilferechtsverein Dresden, dem „Weser-Kurier“.
Nun ist das mit Klischees so eine Sache: Einerseits werden sie vielen nicht gerecht. Andererseits beruhen sie oft auf einem wahren Kern, ohne den sie nicht zustande gekommen wären. Die Kinder, deren Eltern tödlich verunglückt sind, bilden die Ausnahme in den Heimen und in Pflegefamilien. Das berichten Jugendämter im Laufe der Recherche. Das erzählen Eltern, die Kinder in Pflege aufgenommen haben. Das teilt der Kommunalverband Jugend und Soziales mit.
JUGENDPFLEGE IN ZAHLEN
In Deutschland gibt es rund 90 000 Pflegekinder sowie 142 000 Heimkinder. Die Zahlen stammen vom Statistischen Bundesamt. Es sind die aktuellsten.
Jedes Bundesland hat seine eigene Regelung, wie viel Pflegegeld Familien erhalten. Die Summen bewegen sich in einem Korridor zwischen 500 und 1000 Euro. Hinzu kommt die Kostenübernahme für pädagogische und medizinische Hilfestellungen. Etwa wenn es gilt, Traumata zu behandeln.
Nach Aussage des Kommunalverbands Jugend und Soziales (KVJS) gibt es in Deutschland zu wenige Pflegefamilien. Zur Aufnahme von älteren Kindern seien schon seit Jahrzehnten zu wenige bereit. Aber auch bei Kindern unter sechs Jahren werde es immer schwerer, eine Pflegefamilie zu finden – das gelte vor allem für die Städte.
Grundsätzlich sollten Pflegekinder und aufnehmende Familien aus der Stadt stammen, die das Pflegeverhältnis vermittelt. Da es aber in den Städten einen Mangel an Familien gibt, schließen diese vielerorts Abkommen mit benachbarten Landkreisen ab.
Die häufigsten Gründe für eine Pflege sind laut KVJS Vernachlässigung oder körperliche, sexuelle und psychische Gewalt. Nicht selten treten diese Faktoren zusammen auf.
Für städtische Haushalte sind Summen unbedeutend
Es ist ein bunter Strauß an Erfahrungen, was da an Schicksalen zusammenkommt. Bunt, aber nicht schön: Die drogensüchtige Mutter, der flüchtige Vater und die kriminelle Großfamilie. Das alles sind zwar Klischees, einerseits – andererseits kommen sie tatsächlich vor.
Nun sollte jeder Jugendliche, der solche Umstände erlebt hat und trotzdem beruflich Fuß fasst, eigentlich als gesellschaftlicher Erfolg gefeiert werden. Doch das Gegenteil ist der Fall: Kommt ein Heim- oder Pflegekind in die Ausbildung, erhält Bafög oder beginnt einfach nur zu jobben, dann stellt das Jugendamt Forderungen auf: Solange sie in der Pflege sind, müssen Heim- und Pflegekinder 75 Cent von jedem selbst verdienten Euro abgeben. So will es Paragraf 94 des Sozialgesetzbuches. Zuständig für die Kinder sind Städte und Kreise.
Für die Kassen der Kommunen spielen diese Einnahmen keine wichtige Rolle, wie der Wiesbadener Stadtrat für Soziales, Christoph Manjura (SPD) im Gespräch mit dieser Zeitung sagt. Es gehe darum, den Jugendlichen ein Gefühl für die wahren Kosten des Lebens zu vermitteln. Außerdem, so begründet es das Gesetz, sollen Doppelvergütungen verhindert werden. Vereinfacht ausgedrückt lässt sich das Prinzip so erklären: Wer staatliches Geld erhält, soll nicht auch noch privates dazu verdienen.
Heim- und Pflegekinder berichten von dem Schock, wenn sie erfahren, dass ihnen von ihrem ersten selbst verdienten Geld kaum etwas bleibt. Vor allem wenn sie mitbekommen, wie Freunde ihren Lohn behalten dürfen. „Die Regelung macht nicht nur die Ausbildung unattraktiv, sie macht Leistung unattraktiv. Sie gibt den Jugendlichen aus Heimen und der Pflege die Perspektive: Du bist arm, du bleibst arm. Das ist niederdrückend“, sagt Dietmar Muscheid, Chef des Gewerkschaftsbundes DGB Rheinland-Pfalz.
Die Jugendämter bestehen darauf, dass die Jugendlichen das Geld nicht nachzahlen müssten. Heimkinder müssten das Geld gleich abgeben. In Pflegefamilien werde die Summe vom Pflegegeld abgezogen, die Eltern müssen es dann bei ihren Schützlingen einfordern. So weit die Theorie. In der Praxis kommt es dazu, dass die Ämter ihre Ansprüche erst nachträglich bemerken – und mit Verspätung geltend machen. So berichtet der MDR von einer Pflegetochter, die nun mit mehreren 1000 Euro Schulden ins Berufsleben startet.
In diesem speziellen Fall hatte das Amt einen Anspruch übersehen. Der Paragraf 94 lässt aber Spielraum zu: So kann ein Ehrenamt, etwa das des Jugendtrainers, als pädagogisch sinnvoll angesehen werden. Dann kann der Jugendliche Geld, das er dafür bekommt, komplett behalten. Das liegt aber im Ermessen der jeweiligen Stadt oder des jeweiligen Kreises – und das kann sich ändern.
Die Botschaft, dass der Paragraf 94 Heim- und Pflegekindern den Start ins Berufsleben erschwert, ist offenbar in der Politik angekommen. 2017 hat der Bundestag ein Gesetz beschlossen, das die Situation verbessern soll. Was ist passiert seitdem? Nichts. Das Gesetz ist auf dem Weg in den Bundesrat versandet. Heimkinder haben halt keine Lobby. Ein Klischee? Vielleicht. Aber von der Realität gedeckt.