Gastkommentar von Christian Nürnberger: Im Internet geht der Diskurs unter
Von Christian Nürnberger
Christian Nürnberger. Archivfoto: hbz /Stefan Sämmer
Jetzt teilen:
Jetzt teilen:
Es gab einmal eine Zeit, in der Deutschland von Modezaren, Literaturpäpsten, Presse-Tycoons, Alpha-Journalisten, Kochgöttern und Fitness-Gurus beherrscht wurde. Damit ist es heute vorbei. Um es am Beispiel der Literatur zu erläutern: Wenn „Das Literarische Quartett“ genannte Kardinalskollegium unter der Leitung des Literaturpapstes Marcel Reich-Ranicki in öffentlicher Sitzung Autoren und deren Werke verdammte oder heiligsprach, hatten die Buchhändler der Nation schon die Bücher geordert, die laut der Programmvorschau in der ZDF-Sendung gelobt oder verrissen werden sollten. Denn sie konnten sicher sein: Am nächsten Tag werden ihre Kunden eben diese Bücher haben wollen. Auch die verrissenen.
Als sich dieses Kollegium wegen Betagtheit auflöste, kam die Gottesmutter Elke Heidenreich, empfahl ein Buch, und schon wurden 100 000 Exemplare davon verkauft. Sie äußerte kürzlich, sie könnte weiterhin Bücher in den Bestsellerhimmel loben, wenn man sie nur ließe. Bei allem Respekt: Da irrt sie sich wohl, denn die Zahl der Menschen, die heute noch etwas darauf geben, was jemand im Fernsehen sagt oder in der Zeitung schreibt, schrumpft. Drastisch. Und nicht wegen der Demografie, sondern wegen der digitalen Technik. Sie hat ein gewaltiges Macht-Umverteilungsinstrument hervorgebracht: das Internet.
Jeder kann heute Meinungen, Berichte, Fotos, Videos „ins Netz stellen“ und sie für jeden anderen auf dieser Welt verfügbar machen. Jeder kann Bücher rezensieren, Filme, Konzerte, Hotels, Restaurants, Werkstätten, Ärzte kritisieren. Und jeder ist heute sein eigener Programmdirektor und stellt sich sein Hörfunk- und Fernsehprogramm aus den Angeboten von Amazon Music, Apple Music, Spotify, Amazon Prime Video, Netflix und dergleichen zusammen.
UNSER GASTAUTOR
Christian Nürnberge ristg als Publizist tätig. Er konstatiert: Weil Regeln und Kontrollen fehlen, verbreiten sich Hetze, Hass, Fakes und Verschwörungstheorien.
Es ist prinzipiell immer gut, wenn Monopole gebrochen werden, Macht geteilt werden muss, der Einzelne gestärkt wird. Daher ist das Internet ein Segen für die Demokratie. Zur Zeit erleben wir es aber gerade als Fluch, denn das, wovon die Demokratie lebt, nämlich der öffentliche Diskurs, entschwindet immer mehr ins Internet – und verschwindet dort. Weil jegliche Kontrolle fehlt und es keine Standards gibt, die einzuhalten sind. Die alten klassischen Medien werden nach Regeln gemacht, sind dem Pressekodex unterworfen und kontrollieren sich gegenseitig aufgrund der Konkurrenz, die zwischen ihnen herrscht.
Diese Regeln und diese Kontrolle fehlen im Netz. Daher verbreiten sich dort Hetze, Hass, Fakes, Verschwörungstheorien, Irrlehren und jede Form von Quatsch in Windeseile, während die seriöse Information, die besonnene Reflexion oder das leise Insistieren auf Einhaltung von Regeln im allgemeinen Geschrei untergehen. Trump, der Brexit, der italienische Innenminister sind typische Produkte dieser unkontrollierten digitalen Welt. In der analogen Welt wären sie kaum möglich gewesen. Erschwerend hinzu kommt der Trend zu digitaler Abschottung. Im Netz bilden sich Gesinnungsgemeinschaften, die nur noch wahrnehmen, was sie in ihrer Weltanschauung bestärkt und alles, was ihr widerspricht, wegfiltern. Die Facebook-Algorithmen verstärken diese Tendenz noch, und zahlreiche Facebook-Nutzer helfen mit. Die „Entfreundung“ von Menschen, die etwas äußern, was einem nicht behagt, droht gerade zu einem Volkssport zu werden.
In den USA ist diese Tendenz zur Abschottung schon im realen Leben zu beobachten. Da zieht es Wähler der Demokraten in Wohnviertel, in denen Demokraten-Wähler wohnen, und Republikaner in die Republikanerviertel. So entstehen Gruppen, die kaum noch miteinander reden, und wenn sie’s tun, verstehen sie einander nicht mehr, können sich auf nichts mehr einigen, schreien sich nur noch an. Am Ende fegt, wie in Chemnitz, der Mob durch die Straßen.
Das stellt uns vor eine Jahrhundertaufgabe: die demokratische Kontrolle des Internets. Zusätzlich braucht es mehr mündige Bürger, die ihre Regeln im Netz durchsetzen. Dazu wiederum braucht es mehr Bildung, mehr politische Bildung vor allem. Das kann dauern. Aber muss jetzt begonnen werden.