Der diesjährige ESC in Turin steht im Schatten des Krieges. Die Ukraine ist dabei, Russland nicht. Was das für den Wettbewerb und den europäischen Geist bedeutet.
TURIN. In einer Woche geht es in Turin wieder um die europäische Musikkrone. Beim diesjährigen Eurovision Song Contest (ESC), der am 14. Mai von Vorjahressieger Italien ausgetragen wird, ist auch die kriegsgebeutelte Ukraine mit einem Beitrag dabei und bei vielen Buchmachern sogar der Topfavorit auf den Sieg. Russland wird dagegen fehlen. Das Land wurde von der Europäischen Rundfunkunion (EBU) für dieses Jahr suspendiert. Differenzen zwischen den beiden osteuropäischen Ländern hatten sich dabei auf der ESC-Bühne auch schon lange vor dem russischen Angriffskrieg abgezeichnet
ESC-Nation Ukraine
Die Ukraine und der Eurovision Song Contest – das passt. Sie ist das einzige Land, das sich bisher bei jeder Teilnahme für das Finale qualifiziert hat. Zweimal konnte die Ukraine den Wettbewerb schon gewinnen. Und das kommt nicht von ungefähr. „Die Teilnahme der Ukraine am Eurovision Song Contest war von Anfang an Chefsache“, sagt Dr. Irving Wolther. Der in Eppstein geborene Experte hat in Mainz studiert, über den ESC promoviert und schreibt für die offizielle deutsche ESC-Online-Seite „Eurovision“. Er beobachtet die die Strategie der Ukraine seit der ersten Teilnahme vor 19 Jahren genau. „Eine Beratungsfirma namens ‚CFC‘ hat sich 2003 zum ersten Mal ein bisschen umgeschaut wie die Eurovision-Welt funktioniert und daraufhin einen entsprechenden Beitrag maßschneidern lassen, der dann auch 2004 gleich den Wettbewerb gewonnen hat“, erklärt der Experte. Ruslana machte sich damals mit ihrem Auftritt und dem Lied „Wild Dances“ unsterblich.
Weil das Siegerland für gewöhnlich den Wettbewerb im Folgejahr austrägt, fand der ESC 2005 also zum ersten Mal in der Ukraine statt. Und er wurde sogleich für Kampagnen genutzt, um die Wahrnehmung des osteuropäischen Landes als eigenständig und unabhängig zu stärken. „In Osteuropa wurde der ESC nach dem Fall des Eisernen Vorhangs sehr ernstgenommen“, sagt Irving Wolther. Er sei dort ein wichtiges Instrument gewesen, um sich im zusammengewachsenen Europa zu präsentieren und sich gegebenenfalls sogar ein neues Image zu geben.
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Zugleich war der Song Contest auch immer ein Kräftemessen mit dem beim ESC weniger erfolgreichen russischen Nachbarn. „Die Ukraine war in den letzten Jahren eigentlich immer ganz vorne mit dabei und ihre Songs sind teilweise in den Kanon der ESC-Evergreens eingezogen“, sagt Wolther. „Man denke da nur an ‚Dancing Lasha Tumbai‘ von Verka Serduchka. Das darf auf keiner ESC-Party fehlen“, so der ESC-Experte weiter. Doch bei dessen schrillem Auftritt auf hohen Schuhen samt glänzendem Stern auf dem Kopf schwangen bereits 2007 die Differenzen zwischen der Ukraine und Russland mit. Versteckt im Refrain wurde einmal aus dem sich immer wiederholenden „Lasha tumbai“ ein „Russia Goodbye“, Russland auf Wiedersehen.
Russlands ESC-Ausschluss
Mit der russischen Invasion der Ukraine hat der Konflikt zwischen den beiden Nationen einen traurigen Höhepunkt genommen, der auch am Eurovision Song Contest nicht spurlos vorbeigegangen ist. „Das ukrainische Fernsehen hat einen offenen Brief an die europäische Rundfunkunion geschrieben und darum gebeten, das russische Fernsehen auszuschließen“, sagt Irving Wolther. Diesem Aufruf haben sich schon recht bald andere Länder angeschlossen, gerade aus dem Baltikum. „Die Finnen waren dann aber die ersten, die gesagt haben, sie würden nicht am Eurovision Song Contest teilnehmen, wenn Russland mit dabei ist“, erklärt der ESC-Experte weiter.
Diesem Gesuch ist die EBU schließlich nachgekommen und hat Russland vom diesjährigen Wettbewerb suspendiert. Die ukrainische Sängerin Ruslana, ESC-Siegerin von 2004, hält den Ausschluss Russlands vom Eurovision Song Contest wegen des Einmarschs in die Ukraine für alternativlos. „Solange Wladimir Putin Russland kontrolliert, wird das Land nie wieder an etwas teilnehmen“, sagte die 48-Jährige.
Ein baldiges Wiedersehen kann es so schnell ohnehin nicht mehr geben. „Im Anschluss an die Suspendierung hat das russische Fernsehen seine Mitgliedschaft in der europäischen Rundfunkunion aufgekündigt“, erklärt Irving Wolther. Um wieder an einem ESC teilnehmen zu können, müssten Russland und übrigens auch Belarus, dass ebenfalls aus der EBU ausgetreten ist, die Mitgliedschaft neu beantragen und die Kriterien für öffentlich-rechtlichen Rundfunk, wie Staatsferne, nachweisen.
Hat die Ukraine 2022 schon gewonnen?
Die Ukraine jedoch wird sich in Turin präsentieren. Das Lied „Stefania“, eine Mischung aus Rap und traditioneller Musik der Ukraine der Band Kalush Orchestra sehen viele Buchmacher ganz oben. Steht der Sieger also schon fest, bevor es überhaupt losgeht? „Der Song hat alles, was es braucht, um den Wettbewerb für sich zu entscheiden“, sagt Eurovision-Experte Wolther. Der Beitrag sei eine wunderbare Nummer, die eingängig sei, Modernes und Traditionelles verbinde und mit einer spektakulären Performance aufwarte. Die Solidarität des europäischen Publikums, welches einen Stimmanteil von 50 Prozent hat, könnte am Ende den Ausschlag für einen ukrainischen Sieg geben. Das sei aber längst keine ausgemachte Sache. Der diesjährige Wettbewerb berge allerdings die Chance, den europäischen Geist noch weiter zu stärken. „Ich denke, dass ein ukrainischer Sieg ein starkes Zeichen wäre“, meint Irving Wolther.
Doch was ist, wenn die Ukraine tatsächlich gewinnt? Eigentlich ist das Siegerland ja im nächsten Jahr dann immer Gastgeber. „Es ist so, dass wenn ein Siegerland den Wettbewerb nicht ausrichten kann, ein anderes Land einspringt und es gibt da schon verschiedene Kandidaten“, sagt Wolther. Die BBC munkele etwa, dass Deutschland in Frage komme. „Aber auch aus Malta gibt es Signale, den Eurovision Song Contest unbedingt austragen zu wollen“ sagt der Experte.