Das Foto schockte und setzte Politiker unter Druck: Vor fünf Jahren ging das Bild des toten Flüchtlingsjungen Alan Kurdi um die Welt. Für seine Tante hat das Bild nicht an...
ISTANBUL. Als Tima Kurdi den Gebetsruf in der Türkei durchs Telefon hört, steigen ihr Tränen in die Augen. "Ich bekomme jedes Mal Gänsehaut", sagt sie. "Ich stelle mir vor, zurück in Damaskus zu sein, in Syrien, und ihn mit meiner Familie zu hören. Ich werde so emotional..." Kurdis Stimme bricht. Jedes noch so kleine Detail weckt Erinnerungen - an die Flucht ihrer Familie vor dem Bürgerkrieg, an ihren Bruder Abdullah - und an ihre Neffen Alan (2) und Ghalib Kurdi (4), die am 2. September 2015 mit ihrer Mutter Rehanna in der Ägäis ertranken.
Eine Fotografin der türkischen Nachrichtenagentur DHA hatte ein Foto des toten Alan Kurdi aufgenommen - es ging um die Welt. Der kleine Junge, der an einem Strand in der Nähe des türkischen Ferienorts Bodrum angespült wurde, liegt dort bäuchlings, leblos - es sieht so aus, als würde er nur schlafen. Das rote T-Shirt hochgerutscht, die blaue Hose reicht bis zu den Knien. Das Bild wurde ein Symbol der Flüchtlingskrise und für das Leid von Hunderttausenden, die wie die Kurdis versuchten, von der Türkei aus mit einem Boot auf eine der griechischen Inseln zu gelangen.
Nur zwei Tage nach der Tragödie in der Nacht vom 4. auf den 5. September 2015 entschied Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) mit dem damaligen österreichischen Kanzler Werner Faymann, Tausende Flüchtlinge über die Landesgrenze einreisen zu lassen. "Das Bild war ein Weckruf, es hat Menschen dazu bewegt, zu handeln, einschließlich der Politiker", sagt Tima Kurdi noch heute. Kurdi lebt im kanadischen Vancouver, das Gespräch in die Türkei findet per Video statt.
Stimmung gegen Migranten hat sich verändert
Das Bild von Alan Kurdi hat auch fünf Jahre danach seine Symbolkraft nicht verloren. Doch die Stimmung gegen Flüchtlinge und Migranten hat sich verändert - in Deutschland, Europa und auch in der Türkei.
Die Lager in Griechenland sind überfüllt, die Situation verzweifelt. Europa kann sich nicht auf eine Verteilung von Migranten einigen. Die Türkei kämpft mit einer Wirtschaftskrise, die zuerst die sozial Schwachen trifft, darunter Flüchtlinge und Migranten. In Syrien gibt es auch neun Jahre nach dem Beginn des Bürgerkriegs keine Lösung. Die Corona-Pandemie verschärft die Situation.
Merkel hatte im Frühjahr 2016 mit der Türkei einen Flüchtlingsdeal ausgehandelt. Er beinhaltet finanzielle Unterstützung für die 3,6 Millionen Syrer in der Türkei. Er sorgte auch dafür, dass die gefährlichen Versuche, über die Ägäis nach Europa zu gelangen, abnahmen. Doch der Deal ist umstritten. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan benutzt ihn immer wieder als Druckmittel.
Ende Februar etwa hatte Erdogan erklärt, die Landesgrenze nach Griechenland sei geöffnet. Afghanen, Pakistaner und Syrer machten sich auf den Weg Richtung Westen. Sie wurden von griechischen Sicherheitskräften unter Einsatz von Tränengas zurückgedrängt. Wieder gibt es verstörende Bilder, erneut sterben Menschen. Die türkischen Behörden werfen Griechenland vor, drei Flüchtlinge getötet zu haben, was Athen bestreitet. Nach Angaben von Amnesty International gilt eine syrische Frau weiterhin als vermisst. Einen Aufschrei gab es nicht. "Menschen stumpfen gegen die Tragödie ab, weil sich jeden Tag eine Tragödie ereignet", sagt Tima Kurdi. Ihre Stimme ist jetzt fest, ihr Blick ist es auch. Kurdi war schon 1992 nach Kanada ausgewandert. Wie ihre Brüder Mohammad und Abdullah - Alans Vater - hat sie als Friseurin gearbeitet.
Der Tod ihrer Neffen und ihrer Schwägerin hat Tima Kurdi verändert. Sie ist nun eine Kämpferin für die Rechte Geflüchteter und will Bewusstsein schaffen und ihnen eine Stimme geben. Mit ihrem Bruder Abdullah hat sie eine Stiftung für Flüchtlingskinder gegründet, sie spricht vor internationalem Publikum und hat ein Buch über die Geschichte ihrer Familie geschrieben, die ein Schicksal von vielen sei, wie sie sagt. Über Politik spreche sie nicht gerne, sie unterstütze auch keine Seite im Krieg. "Seit der Veröffentlichung des Bildes sage ich dasselbe: Beendet den Krieg in Syrien, verbessert die Situation."
Vor Beginn des Bürgerkriegs waren die Kurdis eine ganz normale Damaszener Mittelklasse-Familie, wie Tima Kurdi es beschreibt. Sie hat fünf Geschwister. Die Kämpfe zwangen die Familie zur Flucht. Zuerst in die kurdische Grenzstadt Kobane, dann, als die Terrormiliz IS vorrückte, in die Türkei. Dort schlugen sich Abdullah und Mohammad mit Gelegenheitsjobs durch. Tima Kurdi wollte ihre Brüder mit ihren Frauen und Kindern aus Istanbul nach Vancouver holen, scheiterte aber an der kanadischen Bürokratie und den Auflagen.
Mehrere Versuche Abdullah Kurdis, mit seiner Frau und den zwei Kindern auf die griechischen Inseln zu gelangen, scheiterten. Beim letzten Versuch 2015 kenterte das Boot, es war überladen. Nur Abdullah überlebte. Er wohnt inzwischen im Nordirak und hat wieder geheiratet. Seinen kleinen Sohn hat er nach seinem verstorbenen Kind Alan benannt. Die Familie Kurdi lebt über die Erdkugel verstreut.
Normalerweise würde Tima Kurdi den Jahrestag der Tragödie mit ihrem Bruder Abdullah verbringen. Doch wegen der Corona-Pandemie kann sie nicht in den Irak reisen. "Er ist sehr traurig darüber", sagt sie. Zu dieser Jahreszeit kommen bei allen die Erinnerungen wieder hoch.
Für die Familie Kurdi war die Veröffentlichung des Fotos von Alan damals schwer zu ertragen. Es habe sie im ersten Jahr sehr verletzt, sagt Tima Kurdi heute. Das Bild hatte auch eine Debatte darüber ausgelöst, was Medien zeigen dürfen. Der Deutsche Presserat entschied damals, dass es symbolisch stehe für die Flüchtlinge und ihr Leid und ein öffentliches Interesse an der Aufnahme bestehe.
Ob es am Ende richtig war, das Foto zu zeigen? Tima Kurdi sagt, sie habe dazu "gemischte Gefühle". Ihre Familie sei nicht um Erlaubnis gefragt worden. Aber das Foto habe die Welt erschüttert. "Wenn das Bild Flüchtlingen hilft, die leiden, ist es ok", sagt sie. "Ich jedenfalls werde die Welt weiter erinnern, damit sie das Bild des Jungen am Strand nicht vergisst."
Von dpa