"Cold Case": Polizei und Justiz setzen auf eine DNA-Reihenuntersuchung, um die Mutter eines 1999 zwischen Lorbach und Vonhausen entdeckten toten Säuglings ausfindig zu machen.
BÜDINGEN. Es ist ein ganz normaler Donnerstag. Der 38-jährige Büdinger ist zu Fuß unterwegs. Auf seinen Spaziergängen durchs Feld in der Gemarkung zwischen Lorbach und Vonhausen kommt er öfter an einer bestimmten Stelle vorbei. Sie war ihm, wie er sagt, schon ein halbes Jahr zuvor aufgefallen, weil da in einer Hecke am Wegesrand ein zugeschnürter blauer Müllsack lag. Dort liegt er auch jetzt noch.
Am Nachmittag des 1. April 1999 fasst der Büdinger einen Entschluss. Diesmal will er nachsehen, was drin ist. Es wird eine grausige Entdeckung. Im Müllsack befindet sich der Leichnam eines neugeborenen Mädchens. Die Todesumstände sind nie aufgeklärt worden. Der Fall hat den Ermittlern bis heute Rätsel aufgegeben. Jetzt hoffen die Behörden auf eine Wende. Das tote Neugeborene wurde seinerzeit namenlos bestattet. Um der Persönlichkeit und der Identität des Mädchens Ausdruck zu verleihen, haben die Ermittler es "Sabrina" genannt.
Die Kriminalpolizei des Wetteraukreises und die Staatsanwaltschaft Gießen sind immer wieder mit solchen Altfällen befasst, die als "Cold Cases" bezeichnet werden. Sie werden, wie Staatsanwalt Thomas Hauburger sagt, vor dem Hintergrund aktueller kriminalistischer und kriminaltechnischer Möglichkeiten stets neu bewertet, um neue Ermittlungsansätze zu gewinnen. So wie jetzt, nach rund 22 Jahren, im Fall "Sabrina". Kripo und Justiz setzen darauf, nun endlich die Mutter des Säuglings ausfindig machen zu können. Dabei bauen sie auch auf die Mithilfe eines bestimmten Kreises von Frauen. Im November soll es in Lorbach zu einer DNA-Reihenuntersuchung ("vielversprechendster Ansatz") kommen.
Die Ermittlungen hatten 1999 ergeben, dass der Sack mit dem Leichnam des Kindes schon einige Monate in der Feldgemarkung gelegen haben musste. Ganz so, wie der Büdinger Spaziergänger es geschildert hatte. Das Mädchen könnte somit Ende 1998 zur Welt gekommen sein. Nach den Schlussfolgerungen der Rechtsmediziner gehen die Ermittler der "AG Sabrina" davon aus, dass das Kind bei seiner Geburt noch gelebt hat. Untersuchungen in den angrenzenden Ortschaften führten damals zu keinem Ergebnis. Auch zahlreiche Hinweise brachten keinen Erfolg.
Eine neue Bewertung des Falles unter Einbindung des Rechtsmedizinischen Institutes der Gießener Universität und einer parallel in Auftrag gegebenen Fallanalyse beim Hessischen Landeskriminalamt ergab, dass die Mutter aus dem "unmittelbaren Nahbereich" des Fundorts der Leiche stammen müsse. Zudem konnte im Jahr 2020 ein vollständiges DNA-Muster des Kindes erstellt werden, über das die Mutter identifiziert werden kann.
"Wer so etwas tut, fährt mit dem Auto nicht erst 500 Kilometer weit weg."
Thomas Hauburger, Staatsanwalt
Wie Staatsanwalt Hauburger im Gespräch mit uns sagt, hat eine Studie des Landeskriminalamts Nordrhein-Westfalen aus dem Jahr 2015 in Hunderten gleich gelagerter Fälle ein "klares Muster" aufgezeigt. Die Frauen waren in aller Regel ("über 80 Prozent") zwischen 13 und 30 Jahre alt. Kriminalistische Erfahrungswerte zeigten, dass die Frauen bei solchen Handlungen akut unter einer enormen emotionalen und psychologischen Belastungssituation stehen. Hauburger: "Wer so etwas tut, fährt mit dem Auto nicht erst 500 Kilometer weit weg." Daher glauben die Ermittlungsbehörden, dass die Mutter des Mädchens möglicherweise aus dem südlichen Bereich von Büdingen, aus Lorbach, Vonhausen oder Diebach am Haag kommen könnte. Beziehungsweise damals dort gewohnt hat.
Etwa 600 Frauen, auf die die Beschreibungen passen, haben die Behörden ausfindig gemacht. Über 300 von ihnen leben nach Auskunft Hauburgers im Wetteraukreis. Rund 250 im restlichen Bundesgebiet. Für die von Staatsanwaltschaft und Polizei initiierte DNA-Reihenuntersuchung werden sie im Laufe der kommenden Wochen zur Abgabe einer freiwilligen Speichelprobe gebeten, um letztlich im Ausschlussverfahren die Mutter ermitteln zu können. Wer zu der beschriebenen Personengruppe gehört, erhält per Post ein Einladungsschreiben zur Entnahme einer Speichelprobe. Die Teilnahme ist freiwillig. Die Reihenuntersuchung findet statt am 6. und 7. November, jeweils von 9 bis 18 Uhr, in der Wolfgang-Konrad-Halle in Lorbach.
Bei der Speichelprobe werden mit einem sterilen Wattetupfer Hautpartikelchen von der Mundschleimhaut der Mundhöhle abgerieben. Der gesamte Vorgang dauert nur wenige Sekunden, ist vollkommen schmerzfrei und ungefährlich. Die entnommene DNA-Probe wird anonymisiert an die mit der Untersuchung beauftragten Sachverständigen übergeben. Die DNA-Identifizierungsmuster werden anschließend mit dem des Mädchens verglichen. Bei einem negativen Ergebnis werden laut Staatsanwaltschaft die Speichelprobe vernichtet und das DNA-Identifizierungsmuster gelöscht. Eine Speicherung des DNA-Musters oder ein Abgleich mit anderen Strafverfahren sei rechtlich nicht möglich.
Nach wie vor sind Justiz und Polizei aber auch auf Hinweise angewiesen. Hier richten sich die Blicke vor allem auf das Verpackungsmaterial, in das "Sabrina" gewickelt war. Es bestand aus zwei blauen Plastikmüllsäcken, einer damals handelsüblichen Aldi-Plastiktasche, einer Plastiktüte des Modehauses Adler, einer Plastiktüte eines damaligen Plus-Marktes und einem hellen Frottee-Handtuch (65 mal 125 Zentimeter). Wer Angaben machen kann, sollte sich an die Polizei wenden - Telefon: 0611/2866-3759; Fax: 0611/32766-3759; E-Mail: AG-Sabrina-K10-FB.ppmh@polizei.hessen.de.