Die Krisenmanager und Seelentröster von der IHK

Die Industrie- und Handelskammern erleben täglich, wie die Corona-Krise die Unternehmen beutelt. Ein Gespräch über große Sorgen und kleine Hoffnungsschimmer.

Anzeige

WIESBADEN/MAINZ. Krisenmanager und Seelentröster – die Industrie- und Handelskammern (IHK) erleben täglich, wie die Corona-Krise die Unternehmen in der Region beutelt. Ein Gespräch mit den Verantwortlichen über große Sorgen und kleine Hoffnungsschimmer.

Frau Meder, Herr Jertz: Die strengen Regeln für Bürger und Unternehmen sind etwas gelockert – stimmt das Tempo dabei? Wo hätten Sie sich mehr Mut gewünscht?

Meder: Entscheidend ist das Signal, dass es überhaupt weitergeht, das ist sehr wichtig für unsere Unternehmen. Sicherlich müssen dabei Gesundheitsschutz und Erleichterungen für die Wirtschaft Hand in Hand gehen. Mehr Mut hätte ich mir etwa bei der Öffnung der Berufsschulen gewünscht. Und man hat die überbetrieblichen Ausbildungsstätten vergessen.

Anzeige

Jertz: Wir hätten uns deutlich mehr Zugeständnisse erwartet, weil wir damit gerechnet hatten, dass alle Geschäfte, die die Hygieneregeln und Abstandsgebote einhalten können, wieder öffnen können. Jetzt ist das nicht logisch: Der Möbelhandel bleibt geschlossen, der Fahrradhandel ist geöffnet. Und wir haben wenig Empathie gespürt für die Gastronomie und Hotellerie.

In den Bundesländern gibt es Unterschiede bei den Lockerungen, auch zwischen Hessen und Rheinland-Pfalz. Der Föderalismus – ein Problem in der Corona-Krise?

Meder: Natürlich muss man in der Lage sein, auf die regionalen Gegebenheiten auch angemessen reagieren zu können. Aber warum in zwei Landeshauptstädten, die nebeneinander liegen, unterschiedliche Regeln gelten, lässt sich nicht vermitteln. Das führt auch zu Wettbewerbsverzerrungen.

Jertz: Der Föderalismus führt einfach dazu, dass Bundesländer miteinander verglichen werden. Ich hatte den Möbelhandel genannt: In Nordrhein-Westfalen gab es dazu schnell eine Lösung, das setzt dann natürlich alle Möbelhändler in Rheinland-Pfalz unter Druck.

Es gibt die große Sorge, dass die Krise zu vielen Insolvenzen führt. Befürchten auch Sie das große Firmensterben?

Anzeige

Meder: Ich bin mir nicht sicher, ob zum Beispiel alle Kleinstunternehmen und Soloselbstständigen, die jetzt ihre Existenzgrundlage verlieren, wieder auf die Beine kommen. Schon bei unserer letzten Umfrage waren mehr als 20 Prozent der Unternehmen unmittelbar von Insolvenz betroffen, die Quote dürfte jetzt deutlich darüber liegen.

Jertz: Vom Grundsatz her sind wir immer optimistisch. Aber wir haben mit sehr, sehr vielen verzweifelten Unternehmern gesprochen, darunter vielen Selbstständigen, denen die Liquidität ausgeht. Wir müssen einfach hoffen, dass wir in zwei, drei Wochen weitere Lockerungen haben, und dass es dann finanziell doch noch reicht.

Reichen die Hilfsprogramme von Bund und Ländern? Was vermissen Sie?

Meder: Die Soforthilfe geht an manchen Soloselbstständigen und Mittelständlern vorbei. Auch dass man Personalkosten nicht als Betriebskosten anerkennt, ist für Unternehmer nicht nachvollziehbar. Letztendlich ist es egal, ob ich Liquiditätsprobleme bekomme wegen der Rechnungen oder wegen der Gehälter, die ich nicht bezahlen kann. Ein weiterer Punkt: Azubis müssen von Anfang an in das Kurzarbeitergeld mit eingeschlossen werden.

Jertz: Ja, das ist ein großes Problem, gerade in der Gastronomie und der Hotellerie. Generell wollen die Unternehmen derzeit nach unserem Dafürhalten keine Darlehen. Sie wollen keine Kredite aufnehmen, weil sie sich nicht festlegen wollen. Und beim Mittelstand stimmt es noch nicht mit den Hilfsprogrammen, da wird man nachjustieren müssen.

Herr Jertz, in Rheinland-Pfalz gab es sehr große Kritik: Viele Anträge auf Soforthilfe seien zu langsam bearbeitet worden. Was hören Sie aus den Firmen dazu?

Jertz: Wir haben enorm viel Druck gespürt in der Kammer. Den haben wir auch weitergegeben. Aber am Ende muss man sehen: Zur Bearbeitung der Anträge waren 170 Mitarbeiter eingesetzt worden, weil auch viele Anträge falsch ausgefüllt waren. Inzwischen sind wir auf einem sehr guten Weg.

Wie klappt’s in Hessen?

Meder: Nach dem ersten Ansturm lief es gut an, seit vergangener Woche erreichen uns aber verstärkt Hinweise von verzweifelten Unternehmern. Die haben nach drei Wochen noch immer kein Geld. Wir adressieren das fast täglich an die entsprechenden Ministerien und das Regierungspräsidium.

Wie haben Sie sich als Kammern neu aufgestellt?

Jertz: Wir haben unsere Arbeit völlig verändert. Wir haben sehr, sehr viele Veranstaltungen abgesagt, Prüfungen verlegt, natürlich das mobile Arbeiten verstärkt. Aber das Wichtigste im Blick auf unsere Unternehmen, für die wir Dienstleister sind: Wir beraten, wir beschwichtigen und betreuen. Wir hatten an unseren Hotlines mehr als 14 000 Anrufe.

Meder: Auch wir haben sämtliche Ressourcen ins Beratungsgeschäft umgelenkt. Jeden Tag kommt irgendein neuer Aspekt dazu, wir sind faktisch immer im Krisenmanagement. Ich glaube genau wie Herr Jertz, dass uns das noch viele, viele Monate begleiten wird.

Was ist mit den Azubis? Die sorgen sich um ihre Übernahme.

Meder: Wir haben bisher nicht festgestellt, dass Ausbildungsverhältnisse wegen der Corona-Krise gekündigt wurden. Aber es wurden, in überschaubarer Anzahl, welche aufgelöst, bevor sie überhaupt starten konnten.

Jertz: Auszubildende sind eine ganz, ganz wertvolle Klientel. Mit Blick auf das neue Ausbildungsjahr müssen wir wohl über unkonventionelle Dinge nachdenken, um junge Menschen in die Ausbildung zu bringen.

Inwiefern hilft Ihnen die Digitalisierung?

Jertz: Webinar ist jetzt das große Thema, also ein Seminar im Web. Telefonkonferenzen, Videokonferenzen sind momentan der Standard. Aber wir freuen uns glaube ich alle darauf, wenn wir uns mal wieder persönlich unterhalten können.

Ist die Digitalisierung für die Firmen auch eine Belastung, weil sie von heute auf morgen digital arbeiten müssen?

Meder: Ich erlebe das andersherum. Wir alle haben im Moment eine steile Lernkurve in Sachen Digitalisierung. Ich glaube, das könnte eine der ganz wenigen Chancen in der aktuellen Situation sein.

Irgendwann ist die Krise vorbei. Was muss dann geschehen?

Meder: Die einzige Chance für viele Unternehmen ist, den entgangenen Umsatz zumindest teilweise nachzuholen. Und das funktioniert natürlich nicht, wenn alle Rahmenbedingungen gleich bleiben, Stichwort Bürokratie.

Jertz: Wir werden über viele, viele Pakete zu reden haben. Das wird das Steuerrecht tangieren. Wir werden über eine Innovationsoffensive reden müssen, über Digitalisierung.

Meder: Man sollte da auch keine Grenzen setzen. Ob man jetzt ganz, ganz groß denkt im Sinne von Konjunkturpaketen, oder auch ganz, ganz klein, mit einer Late-Night-Shopping-Aktion oder einem verkaufsoffenen Sonntag mehr.

Das heißt: Nicht nur die Politik, auch die Bürger sind gefragt, die heimische Wirtschaft zu unterstützen.

Jertz: Ich habe dazu in den ersten Tagen nach den Lockerungen jedenfalls sehr positive Signale vom rheinhessischen Einzelhandel bekommen.

Meder: Klar hat man sich gerade an den Online-Einkauf gewöhnt, aber ich hoffe, dass es wieder in die andere Richtung geht. Ich glaube aber auch, dass die Krise eine sehr starke regionale Solidarität ausgelöst hat. Es gibt ganz, ganz viele verschiedene Projekte, die lokale Firmen unterstützen.

Jertz: Übrigens, es ist bestimmt überraschend, wenn wir als Wirtschaftsvertreter über Kultur reden. Aber das ist ein weicher Standortfaktor, der unsere Unternehmen auch sehr, sehr betrifft, wenn man sieht, was etwa in der Konzertbranche los ist.

Ich nehme an, Sie freuen sich darauf, wenn Sie sich wieder nur darüber ärgern müssen, dass es auf der Schiersteiner Brücke nicht schnell genug vorangeht.

Beide: Oh ja.

Das Interview führten Christian Matz und Frederik Voss.