Das Desaster mit der 737 Max gefährdet das Image von Boeing
Bislang galt Boeing als Unternehmen, dem die Sicherheit seiner Produkte über alles geht. Nach dem Absturz zweier 737-Max-Jets wachsen die Zweifel an diesem Image.
Von Ken Chowanetz
Editor Zentraldesk
Die 737 Max 8 in der Bemalung der polnischen Fluggesellschaft LOT.
(Fotos: Boeing)
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MAINZ - Seit 2003 gibt es die Fernsehserie „Air Crash Investigation“ (mit dem leider etwas reißerischen Titel „Mayday – Alarm im Cockpit“ auch hierzulande zu sehen). Darin werden Flugzeugunglücke, die Schlagzeilen machten, nachgestellt. Kern jeder Folge ist die Schilderung, wie Unfallermittler in akribischer Kleinarbeit herauszufinden versuchen, warum passierte, was passierte. Als roter Faden zieht sich durch die mehr als 180 Folgen die Erkenntnis, dass sich voreilig gezogene Schlüsse später als falsch erweisen. Spekulationen sind fehl am Platz.
Auch im Fall der am 10. März dieses Jahres bei Addis Abeba abgestürzten Boeing 737 Max 8 mit 157 Todesopfern waren (selbsternannte) Luftfahrtexperten schnell mit einem Urteil zur Hand. Eine fehlerhafte Steuerungssoftware soll zu dem Unglück geführt haben. Der Crash bei Addis Abeba weist beunruhigende Parallelen zum ersten Absturz einer 737 Max überhaupt knapp fünf Monate zuvor auf. Der Lion-Air-Jet war kurz nach dem Start in Jakarta ins Meer gestürzt. 189 Passagiere und Besatzungsmitglieder starben bei diesem Unglück.
Vom Kassenschlager zum „Todes-Flieger“
Die Boeing 737 Max wurde nach dem zweiten Absturz einer Max 8 innerhalb weniger Monate und dem anschließenden weltweiten Flugverbot vom Verkaufsschlager mit 5000 Bestellungen für die verschiedenen Max-Versionen zum „Todes-Flieger“, wie nicht nur „Bild“ das Flugzeug bezeichnete. Die angesichts von 346 Todesopfern makabre Aussage von Boeing, man arbeite an einem Software-Update, um ein „sicheres Flugzeug noch sicherer (zu) machen“, war äußerst unglücklich.
Endgültig zum Desaster für Boeing entwickelte sich das Thema, als immer mehr Details zum umstrittenen Steuerungsprogramm MCAS, zur Einführung dieser Software und zum Zulassungsverfahren der 737 Max 8 bekannt wurden. Das Gesamtbild, das sich ergibt, zeigt einen Hersteller, der sich bisher als auf Sicherheit geradezu fixiert präsentierte, in einem ganz neuen Licht. Einer der Vorwürfe: Bereits nach dem ersten 737-Max-Absturz im Oktober sei das Steuerungssystem MCAS in Verdacht geraten, zu dem Unglück beigetragen zu haben – ohne dass Boeing anschließend konsequent genug auf die identifizierte Gefahr hinwies. Die bisherigen Erkenntnisse zu dem Lion-Air-Absturz im Oktober 2018 lassen für Experten den Schluss zu, dass das MCAS, das über den Kopf der Piloten hinweg agieren und in die Trimmung des Jets eingreifen kann, fehleranfällig ist, weil es die wichtigsten seiner Daten von nur einem Messinstrument bezieht. Es gilt als Axiom in der Luftfahrt, dass alle Informationen im Cockpit aus drei voneinander unabhängigen Quellen kommen. Liefert ein Messinstrument abweichende Werte, bleiben dann zwei weitere, die man miteinander abgleichen kann. Im Fall der verunglückten Jets könnte das MCAS einen drohenden Strömungsabriss erkannt haben, obwohl die Gefahr gar nicht bestand. Als unnötige Gegenmaßnahme hätte das MCAS die Nase des Jets dann nach unten gezwungen, obwohl die Piloten doch eigentlich steigen wollten.
Ein weiterer Vorwurf, den der Luftfahrtredakteur Dominic Gates in der Seattle Times erhebt: Boeing soll seine Kunden über den Einsatz des neuen MCAS bei der 737 Max nicht informiert haben, um die Umschulung von 737-Piloten auf die Max-Versionen zu erleichtern. Gates zufolge erfuhren die Piloten amerikanischer Airlines, bei denen die 737 Max bereits im Einsatz war, erst im November 2018 über MCAS, dessen Funktionsweise und wie bei einer Störung vorzugehen sei. Jon Weaks, Präsident der Pilotenvereinigung bei der US-Fluggesellschaft Southwest Airlines, sagte in einem Interview: „Wir mögen die Tatsache nicht, dass ein neues System in ein Flugzeug eingebaut wird und dies weder jemandem mitgeteilt wird noch in den Handbüchern auftaucht.“ Auch das Zulassungsverfahren der 737 Max gerät massiv in die Kritik. Die US-Luftfahrtbehörde FAA hatte spezielle Mitarbeiter bei Boeing dazu ermächtigt, für bestimmte Komponenten der 737 Max selbst eine Vorab-Zertifizierung vorzunehmen. Längst ist das Boeing-Desaster zum Politikum geworden. Inzwischen lässt die US-Regierung das Zulassungsverfahren neuer Flugzeuge durch die FAA insgesamt überprüfen.
Der Imageschaden für Boeing ist enorm, die wirtschaftlichen Auswirkungen dürften nicht minder dramatisch sein. Schon jetzt haben erste Fluggesellschaften Boeing ersucht, ihre Bestellungen der 737 Max rückgängig machen zu dürfen. Im Raum stehen auch Entschädigungen für jene Kunden, die die bereits gelieferten Jets dieses Typs wegen des weltweiten Flugverbots nicht betreiben dürfen. Und sollten Gerichte Boeing eine Mitschuld an den Abstürzen der 737 Max 8 bescheinigen, könnten die Schadensersatzforderungen in die Milliarden gehen. Den 346 Todesopfern hilft das nicht mehr.