Abgesagt: Dann eben Headbanging im Wohnzimmer

In diesem Jahr gibt es beim Trebur Open Air kein Stagediving. Foto: Trebur Open Air

Wie gehen Festivalmacher mit dem Corona-Sommer um? Ein Blick auf die alternative Kulturszene von Bingen über Wetzlar bis in den Odenwald.

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Region. Headbangen zu großen Metal-Bands, Pogen vor der Ska-Bühne und ein langer Rave durch die laue Sommernacht – all das wird in diesem Sommer nicht möglich sein. Großveranstaltungen sind abgesagt. Die Festivalmacher in Rheinhessen, im Rheingau, in Süd- und Mittelhessen eint: Das Line-up stand schon, die Tickets waren verkauft. Doch dann kam Corona.

Das stellt die Festivalmacher nicht zwangsläufig vor finanzielle Probleme. Was viele Festivalgänger oft vergessen: Vom „Trebur Open Air“ und dem „Sound of the Forest“ zum „Tells Bells“ bei Limburg, vom „Binger Open Air“ und dem „Eurofolk“ in Ingelheim bis hin zum „Neuborn Open Air“ in Wörrstadt oder dem „Besser Als Nix“ im Rheingau – all diese Veranstaltungen werden von Ehrenamtlichen organisiert.

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Die Festivals haben damit in der Krise noch einmal Glück gehabt: Bei keinem entsteht ein großes finanzielles Loch. Keine Mietkosten, keine Mitarbeiterkosten, keine Kosten für offene Verträge – die gesamte Branche hält in der Pandemie zusammen. Die meisten Festivals verlegen gemeinsam mit den Musikern und ihren Dienstleistern ihr Programm in denSommer 2021. Dennoch: Unzählige Stunden freiwilliger, unbezahlter Arbeit sind dahin. Zumindest für dieses Jahr.

In Ingelheim steigen die Gäste sonst beim Flackern des Lagerfeuers in den Trommelkreis mit ein. In Wetzlar tanzen die Liebhaber elektronischer Musik zu tiefen Bässen und buntem Konfetti über die Wiese. Jedes der Festivals bringt Menschen aus der Region, zum Teil aus ganz Deutschland zusammen. Es sind Orte der Subkulturen. Es kommen Menschen, die über Generationen hinweg Zelt an Zelt nebeneinander schlafen. Ehrenamtliche arbeiten ein Jahr auf dieses eine Wochenende hin, sehen, was sie geschaffen haben, und wie man mit harter Arbeit das lokale Jugend- und Kulturprogramm erweitern kann. Und sie feiern es.

Keine Ausnahmen, alle Festivals fallen flach

Jedes der Festivals erzählt seine eigene Geschichte zur Corona-Absage: Im rheinhessischen Ingelheim stand das „Eurofolk Ingelheim“ 1982 schon einmal auf der Kippe. Doch die Festivalbegeisterten ließen sich nicht durch ein Verbot der Stadt stoppen und veranstalteten ein illegales Festival. In diesem Jahr ist das anders. Die Macher des „Sound of the Forest“-Festivals am Marbachstausee im Odenwald dagegen kennen sich mit Absagen aus. Bereits 2018 mussten sie zwei Tage vor Eröffnung die Zelte und Bühnen wieder abbauen: Waldbrandgefahr. In diesem Jahr werden die Vögel die einzigen sein, die Musik spielen dürfen: „Sound of the Forest“ , der Klang des Waldes, wird 2020 wortwörtlich genommen.

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Im Odenwald ist es der Gang über die Staudammbrücke, in Ingelheim der Pfad durch das Tor zum Rosengarten, in Bingen der Aufstieg auf den Rochusberg – alle diese Wege führen zum Festivalgelände. Hinaus aus dem Alltag und hinein in ein Paralleluniversum. Das „Eurofolk“ solle ein Ort der Freiheit und des selbstbestimmten Lebens sein. „Auch wenn das fast schon wie eine Utopie klingt“, sagt Mitgründer Carsten Jens. Für den Unternehmer Christian Minke in Wetzlar soll das Elektro-Festival „James Wood“ ein „großer Spielplatz für Erwachsene“ sein.

Den Bingern geht es um die „Flucht aus dem Alltag“, erklärt Mitorganisator Lukas Zurstraßen. Fritz Krings Idee war es mit dem „Sound of the Forest“ eine „Kulturwährung“ für die Region zu schaffen, um gegen die Langeweile des Odenwälder Hinterlandes, gegen Vorurteile und Klischees zu kämpfen. Veranstaltern wie ihm geht es um das „Brückenbauen“ – zwischen den Menschen und in den Köpfen der Menschen, um den eigenen Horizont zu erweitern. Das „Besser als Nix!“ in Geisenheim im Rheingau ist für Mitgründer Dirk Klinner ein „Integrationsprojekt“. Was hinter der Bühne geschieht, das zählt für ihn. Hier helfen Leute, die Arbeitsstunden ableisten müssen, genauso wie Menschen mit Behinderung, Flüchtlinge, Enkelkinder und Großeltern. „Wir haben Eliteschüler dabei und Leute, die nicht mit ihrem Leben klar kommen.“ Aber all das zähle auf dem Festivalgelände nicht: „Hier läuft alles komplett auf Augenhöhe.“

Festivals schweißen ganze Orte enger zusammen

Die Festivals sind für viele feste Termine im Kalender. Es geht um das gemeinsame Feiern und um das gemeinsame Gestalten: In Villmar bei Limburg arbeitet der ganze Ort zusammen, damit das „Tells Bells“ reibungslos über die Bühne geht. Bei den Thekendiensten etwa tauschen sich die Ehrenamtlichen mit anderen Vereinen aus. Das Prinzip ist einfach und effektiv: „Wir helfen bei denen, die helfen bei uns.“ Damit wachsen durch das Hardrock-Festival nicht nur die Veranstalter enger zusammen, sondern der ganze Ort.

Toleranz und Integration, das wird bei den Festivals gelebt. Es geht um die Förderung von Jugend- und Kulturarbeit. Wie das „Neuborn Open Air“ in Rheinhessen ist auch das „Trebur Open Air“ im Kreis Groß-Gerau aus der städtischen Jugendarbeit heraus entstanden – bei beiden arbeiten Ehrenamtliche eng mit den Gemeinden zusammen.

Ganz ausfallen soll der Festivalsommer aber nicht: Viele Organisatoren setzen auf Live-streams, um bei ihren Fans nicht in Vergessenheit zu geraten und Spenden zu sammeln – für Veranstaltungstechniker, Gastronomiebetreiber und Musiker. Denn ohne einen Festivalsommer sind es vor allem diese , die am härtesten von den Absagen getroffen sind.

Für alle Macher war von Beginn an klar, dass Sicherheit und Gesundheit im Vordergrund steht. „Pogen geht halt nicht mit 1,50 Meter Abstand“, macht Lukas Zurstraßen vom Binger Open Air klar. Wann die sorgenfreie Festivalstimmung wieder aufkommen wird, das weiß keiner so genau. Doch alle Veranstalter planen schon fleißig für den nächsten Sommer 2021. „Ich persönlich kann mir vorstellen, dass uns die Pandemie noch weiter begleitet“, sagt Daniel Krämer vom „Neuborn Open Air“ . Er rechnet weiterhin mit Einschränkungen – gerade für Großveranstaltungen. Doch als Festivalorganisator wolle er da „natürlich optimistisch“ bleiben.

Welche Festivals gibt es sonst noch in der Region? Klicken Sie sich durch die interaktive Karte.

Von Denise Kopyciok