Vorrang für Kunstfreiheit bei Odenwaldschule-Film

Szene aus dem Odenwaldschule-Film „Die Auserwählten“ mit Ulrich Tukur (Mitte) als Schulleiter Gerold Becker. Foto: WDR

Der Bundesgerichtshof weist die Klage eines Schülers ab, der Missbrauchsopfer wurde und sich in einer Rolle in „Die Auserwählten“ wiedererkennt.

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SÜDHESSEN. Der Fernsehfilm „Die Auserwählten“ über den systematischen Kindesmissbrauch an der Odenwaldschule darf weiter in ungekürzter Form gezeigt werden. Am Dienstag hat der Bundesgerichtshof letztinstanzlich eine Unterlassungsklage gegen die weitere Verbreitung von Szenen des Films abgewiesen. Geklagt hatte ein ehemaliger Schüler, der sich in einer Filmfigur wiedererkannte. Die Karlsruher Richter werteten die Kunst-und Filmfreiheit in dem konkreten Fall jedoch höher.

Der Kläger hatte in erster Instanz am Landgericht Hamburg zunächst erfolgreich eine Einstweilige Verfügung gegen den Film erwirkt. Er hatte in den 1980er Jahren die Odenwaldschule besucht und war dort über mehrere Jahre sexuell misshandelt worden. Seit 1998 machte er öffentlich auf das Missbrauchsgeschehen aufmerksam und trug maßgeblich zur Aufklärung der Vorgänge bei, durch die Kindheit und Jugend von mindestens 132 Schülerinnen und Schülern überschattet oder ruiniert wurden.

2011 veröffentlichte der Kläger ein autobiografisches Buch, in dem er die Geschehnisse schilderte. Im Folgejahr erhielt er dafür den Geschwister-Scholl-Preis und legte daraufhin sein zunächst verwendetes Pseudonym ab.

Die ARD zeigte 2014 im Abendprogramm den vom WDR produzierten Spielfilm „Die Auserwählten“ mit Ulrich Tukur und Julia Jentsch. Der an Originalschauplätzen gedrehte Film thematisiert den sexuellen Missbrauch an der Odenwaldschule.

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Erkennbar diente der Kläger als Vorbild für eine zentrale Filmfigur. Er selbst hatte eine Mitwirkung an dem Film im Vorfeld abgelehnt und sah in der Darstellung einen unzulässigen Eingriff in sein Persönlichkeitsrecht. Vor Gericht forderte er, die weitere Verbreitung der entsprechenden Filmszenen zu unterlassen.

Das Landgericht Hamburg erließ zwar 2014 eine Einstweilige Verfügung, wies die Klage aber letztlich zurück. Der Kläger ging mit Berufung und Revision weiter durch die Instanzen – bis zum Bundesgerichtshof. Dort bestätigte jetzt der 6. Zivilsenat, zuständig unter anderem für Ansprüche aus dem Recht am eigenen Bild, die Vorentscheidungen. Die Klage ist damit rechtskräftig abgewiesen.

Der Kläger könne sein Unterlassungsbegehren nicht auf sein Recht am eigenen Bild stützen, befanden die Karlsruher Richter. Eine bloße Darstellung einer realen Person durch einen Schauspieler in einem Spielfilm sei rechtlich kein Bildnis der dargestellten Person. Als solches wäre die Darstellung nur dann anzusehen, wenn der täuschend echte Eindruck erweckt werde, es handele sich um die dargestellte Person selbst – etwa durch den Einsatz eines Doppelgängers oder mithilfe einer nachgestellten berühmten Szene oder Fotografie.

Den Anspruch auf Unterlassung sahen die Richter „bei der gebotenen kunstspezifischen Betrachtungsweise“ auch nicht durch das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Klägers begründet. Zwar sei er durchaus betroffen durch die Übereinstimmungen zwischen seinem Schicksal und der Darstellung der Filmfigur. Auch verstärke „die in der besonderen Intensität der visuellen Darstellung liegende suggestive Kraft eines Spielfilms“ die Betroffenheit. Doch wiege diese nicht so schwer, dass dafür die Kunst- und Filmfreiheit zurücktreten müsste.

Die Richter berücksichtigten bei ihrer Abwägung auch, dass der Kläger in der Vergangenheit selbst an die Öffentlichkeit gegangen war und an Presseveröffentlichungen und einem Dokumentarfilm mitgewirkt hatte.