Initiativen hauchen südhessischen Bahnhöfen neues Leben ein
Adressen
Gleis 1 Eventlocation, Torsten Kriegbaum,64404 Bickenbach, www.Gleis1-Location.de.
Trainstop – Raum für Visionen, Michaela Stollreiter, 64404 Bickenbach, www.trainstop.de.
Vanille Stadtkoch, Johan Jorry, 64367 Mühltal-Traisa, www.vanille-darmstadt.de.
Kulturbahnhof Mörfelden, 64546 Mörfelden-Walldorf, www.kuba-moerfelden.de.
Gleis 1 Eventlocation, Torsten Kriegbaum,64404 Bickenbach, www.Gleis1-Location.de.
Trainstop – Raum für Visionen, Michaela Stollreiter, 64404 Bickenbach, www.trainstop.de.
Vanille Stadtkoch, Johan Jorry, 64367 Mühltal-Traisa, www.vanille-darmstadt.de.
Kulturbahnhof Mörfelden, 64546 Mörfelden-Walldorf, www.kuba-moerfelden.de.
SÜDHESSEN - Bei der Vorstellung, zusammen mit gewöhnlichen Menschen auf dem gleichen Bahnsteig auf einen Zug zu warten, hätte viele Fürsten wohl das kalte Grausen gepackt. In Darmstadt wurde daher der separate Fürstenbahnhof errichtet, im Bickenbacher Bahnhof gab es immerhin ein Fürstenzimmer. Als Zar Nikolaus und Zarin Alexandra im Jahre 1903 ihre hessischen Verwandten auf dem Heiligenberg besuchten, warteten sie in diesem Raum, bis sie in die Nebenbahn umsteigen konnte, die sie nach Jugenheim brachte.
Die glorreichen Zeiten sind lange vorbei. Die einst opulent ausgestatteten und mit reichlich Personal versehenen südhessischen Provinzbahnhöfe sind von der Deutschen Bahn schon vor Jahren aufgegeben und verkauft worden. Viele davon verrotten allmählich. In dem traditionsreichen Bickenbacher Gebäude ist jetzt nach Jahren des Leerstands und Verfalls neues Leben eingekehrt. In dem ehemaligen Fürstenzimmer hat Managementberaterin Michaela Stollreiter ihr Büro eingerichtet, die ehemalige Wartehalle dient als Raum für größere Festivitäten.
Stollreiter hat eine besondere Beziehung zu dem Bahnhof. "Im Obergeschoss hat meine Tante gewohnt, da war ich als Kind in den siebziger Jahren häufig zu Besuch", erzählt sie. Und so war es auch eine Herzensangelegenheit, als sie vor zwei Jahren zusammen mit einem Geschäftspartner das Gebäude ersteigern konnte: "Das war ganz schön aufregend. Da gab es zwei andere Interessenten, die mächtig mit uns gesteigert haben." Aber schließlich erhielten die Bickenbacher für 53 000 Euro den Zuschlag und sind seitdem stolze Bahnhofsbesitzer.
Damit begann aber erst die Arbeit. Eine deutlich höhere Summe als der Kaufpreis musste investiert werden, um die maroden Räumlichkeiten zu restaurieren. "Ich habe hier bei der Renovierung 750 Stunden meines Lebens verbracht", erzählt Torsten Kriegbaum, der Betreiber der Gleis1-Eventlocation. Er baute neue Sanitäranlagen ein, legte Fliesen, installierte Elektroleitungen, restaurierte die Fenster und ließ alle Wände neu verputzen, wobei auch immer die Auflagen des Denkmalschutzes erfüllt wurden. Äußerlich blieb das 1848 nach dem Bau der Main-Neckar-Bahn aus Sandsteinblöcken errichtete Bahnhofsgebäude - eines der ältesten in Hessen - unverändert. Das Obergeschoss dient noch immer als Wohnung und ist vermietet, im ehemaligen Bahnbüro bietet Christiane Meinicke Trainings- und Workshop-Moderationen an.
In der einstigen Gepäckaufbewahrung hat Michaela Stollreiter ihren Tagungsraum, in dem sie unter anderem Teambuilding-Seminare veranstaltet - bei größeren Gruppen wird auch die ehemalige Wartehalle genutzt. Dann verwandelt sich das Bahnhofsambiente in der Vorstellung der Teilnehmer zum Beispiel in einen südamerikanischen Regenwald, wo sie zum Team zusammenwachsen müssen, um eine vorgegebene Mission zu erfüllen. Der besondere Reiz ist, dass die Seminarteilnehmer direkt vor der Tagungsstätte aus dem Zug aussteigen können - entsprechend hat Stollreiter für ihr Projekt den Namen "Trainstop - Raum für Visionen" gewählt.
An den Wochenenden wird der Bickenbacher Bahnhof zur "Event-Location". Kürzlich gab es hier ein Jubiläumstreffen eines Abiturjahrgangs aus dem Jahre 1985. Bei einer Beamer-Show wurden Fotos aus Schulzeiten gezeigt, man konnte Erinnerungen austauschen und zusammen feiern. "Obwohl wir bisher keine Werbung gemacht haben, gibt es erstaunlich viele Anfragen", erzählt Torsten Kriegbaum. "Die Leute kommen hierher und fühlen sich wohl. Und dann erzählen sie anderen davon und die Sache spricht sich herum." Bei den Events - Jubiläen, Geburtstagsfeiern, Betriebsfeste - sorgen die Betreiber für Getränke und einen Barkeeper und organisieren auf Wunsch auch Live-Musik. "Wir kümmern uns um alles, nur nicht um das Essen", sagt Kriegbaum. Das organisieren die jeweiligen Mieter selbst.
Bei der Einrichtung wurde viel Wert darauf gelegt, die alte Bahnhofsatmosphäre mit diversen Accessoires zu erhalten. Eine Wand wird von einem großformatigen Motiv einer Dampflokomotive geziert, an den Toilettentüren hängen nostalgische Bilder von uniformierten Bahnbediensteten. Auch alte Metallschilder, die die Fahrtziele Heidelberg und Frankfurt anzeigten, wurden integriert. "Vieles was jetzt hier an den Wänden zu sehen ist, lag vergammelt in den Ecken herum", erzählt Kriegbaum.
Erhalten blieben auch einige alte Klappsitze im Warteraum, die an die Zeiten erinnern, als die Deutsche Bahn ihren Kunden bei schlechter Witterung noch einen gewissen Komfort anbot. Heute wartet man auf zugigen und verrotteten Bahnsteigen, die in scharfem Kontrast zu den Imageprospekten stehen, in denen sich das Unternehmen als moderner Dienstleister präsentiert. In Bickenbach liegen die Bahnsteige so niedrig, dass das Ein- und Aussteigen mit Koffern, Kinderwagen und Fahrrädern bisweilen größte Mühe erfordert. Die baufällige Unterführung zum Bahnsteig 2 spottet jeder Beschreibung. Die versprochene Modernisierung wurde immer wieder verschoben, derzeit ist das Jahr 2018 ins Auge gefasst.
Genauso abstoßend ist die Atmosphäre an der Station Darmstadt-Süd. Der Darmstädter Südbahnhof, einst ein architektonisches Schmuckstück, gehört zu dem Immobilienbestand, den die Bahn zusammen mit vielen anderen südhessischen Bahnhofsgebäuden an mehrere Investoren verkauft hat. Derzeit befinden sich die Gebäude in Darmstadt-Süd, Weiterstadt, Zwingenberg und Heppenheim im Besitz der Metropol Immobilien Rhein-Main AG, die auf ihrer Homepage den besonderen Reiz dieser Anlagen beschwört: "Keine andere Spezialimmobilie ist annähernd so emotional geprägt wie Bahnhöfe und ihre Empfangshallen". Weniger emotional ist das beschriebene Geschäftsziel, das darauf ausgerichtet ist, "Immobilien zu möglichst niedrigem Marktpreis zu erwerben und diese nach wertsteigernder Sanierung zu vermieten oder gewinnbringend zu veräußern." Eine wertsteigernde Sanierung ist bisher noch nicht erfolgt, es blieb bei dekorativen Modellansichten. Aus dem Darmstädter Südbahnhof sollte zum Beispiel eine Wohnanlage für Studenten werden. Ob diese Pläne noch aktuell sind, konnte ein Firmensprecher nicht bestätigen. Seinen Angaben zufolge laufen aber derzeit Mietverhandlungen für mehrere Objekte. Die Renovierung des Gebäudes in Zwingenberg wird demnach zur Zeit in Absprache mit dem Denkmalamt vorbereitet und soll in Kürze begonnen werden. In Darmstadt Süd werde die Renovierung voraussichtlich in der ersten Hälfte 2016 erfolgen.
Einer der schönsten südhessischen Provinzbahnhöfe an der Station Nieder-Ramstadt/Traisa wurde 1977 abgerissen, ohne dass es Interventionen von Denkmalschützern gegeben hätte. Nur ein Plastikmodell der Firma Faller erinnert heute noch an die Fachwerkarchitektur.
Geblieben ist die alte Traisaer Güterhalle, in der der vormalige Darmstädter "Stadtkoch" Johan Jorry vor zweieinhalb Jahren unter dem Namen "Vanille" ein Feinschmeckerlokal mit französischer Küche und erlesenen Weinen eingerichtet hat. Jorry kocht für Gruppen ab acht Personen ein vorab festgelegtes Menü, bei dem aber auch Sonderwünsche einzelner Gäste berücksichtigt werden. Gelegentlich gibt es dazu auch Live-Musik oder ein DJ sorgt für die gewünschte Beschallung. Auch in der ehemaligen Güterhalle ist die Bahnatmosphäre noch spürbar. An einer Wand hängt das alte Bahnhofsschild "Traisa Nieder-Ramstadt", das den Abriss des Gebäudes überdauert hat. "Das hat ein ehemaliger Nachbar bei Kunden in einer Scheune entdeckt und uns geschenkt", erzählt Anette Jorry. Während für die Gruppenabende eine Reservierung nötig ist, gibt es jetzt zusätzlich jeden Mittwoch ab 19 Uhr offene Bistroabende ohne Voranmeldung.
Bei einigen alten südhessischen Stationsgebäuden wurden - was angesichts des Sparzwangs eher ungewöhnlich ist - die Stadt- und Gemeindeverwaltungen aktiv. Im alten Groß-Umstädter Bahnhof befinden sich jetzt Bürgerbüro und Kfz-Zulassungsstelle, in Erzhausen hat die örtliche Bücherei ihren Sitz, im ehemaligen Roßdorfer Bahnhof wurde ein Handwerksmuseum eingerichtet. Der Bahnhof in Michelstadt wird schon seit zehn Jahren von der RMV-Mobilitätszentrale genutzt. Dort gibt es - ebenfalls heute sehr ungewöhnlich - statt Automaten und Lautsprecheransagen wieder leibhaftige Menschen, die die Kunden über Reiseverbindungen und Ausflüge in der Region beraten.
Meist ist es aber privaten Initiativen zu danken, dass die maroden Gebäude renoviert und mit neuem Leben gefüllt werden. In Dieburg existiert seit vielen Jahren ein Restaurant mit lateinamerikanischer Küche, der Darmstädter Ostbahnhof bietet seit 2011 Platz für einen Bikestore. Den alten Bahnhof in Bensheim-Auerbach hat kürzlich ein ortsansässiges Ehepaar erworben. Dort soll nach der Renovierung ein Kaffeehaus oder Kulturcafé entstehen.
Nicht alle Initiativen sind von Dauer. Wie berichtet, muss Mona Herzberger ihre vor vier Jahren im Weiterstädter Bahnhof eingerichtete "Music Station" Ende des Jahres schließen, weil die Umsätze insgesamt hinter den Erwartungen zurückblieben. Zwar waren die Veranstaltungen mit Live-Musik an den Wochenenden meist gut besucht, das reichte aber nicht aus, um kostendeckend zu wirtschaften.
Eines der erfolgreichsten südhessischen Projekte ist der Kulturbahnhof Mörfelden, kurz "Kuba" genannt. Seit 2003 organisiert ein Verein mit ehrenamtlich tätigen Mitgliedern dort ein buntes Kulturprogramm für Jugendliche und Erwachsene mit Konzerten, Ausstellungen, Theateraufführungen, Spielabenden und einem Sonntagscafé. Natürlich kann dort auch getanzt werden: Am Samstag (31.) verwandeln sich die Räumlichkeiten unter dem Motto "Halloween im Kuba" in einen düsteren Friedhof, wo die schaurig gewandeten Gäste sich zum "Tanz der Untoten" einfinden.
Auch die neuen Bickenbacher Bahnhofsbesitzer suchen neben den Angeboten für Gruppen die Öffentlichkeit. "Wir würden gerne auch einmal im Monat für die Allgemeinheit öffnen", sagt Torsten Kriegbaum. Denkbar wären Konzerte, Lesungen und Ausstellungen. Er hofft dabei auch auf die Zusammenarbeit mit der Gemeinde: "Wir wollen den alten Bahnhof beleben und auch etwas für die Bickenbacher Bürger tun".