2019 soll Hessen den Vorsitz der Kultusministerkonferenz übernehmen. Ein Kernauftrag: Entwicklung einer deutschlandweiten Digitalstrategie für Schulen. Wie digital sind die...
REGION. 2019 soll Hessen den Vorsitz der Kultusministerkonferenz übernehmen. Ein Kernauftrag: Entwicklung einer deutschlandweiten Digitalstrategie für Schulen. Wie digital sind die hessischen Klassenzimmer, wie digital sollten sie sein? In einer mehrteiligen Gesprächsreihe mit Experten, Lehrern, Schülern, aber auch Kritikern wird dieses Thema aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet. In Teil III steht der stellvertretende Geschäftsführer des Zentrums für Lehrerbildung und Koordinator für Medienkompetenz im Lehramtsstudium an der Jus¬tus-Liebig-Universität Gießen, Doktor Mathis Prange, Rede und Antwort.
Eine Einschätzung zur Digitalisierung in Deutschland lautet: Gesellschaft und Politik liegen bei diesem Thema noch im Bett. Stimmt das?
Ich fürchte ja. Die Verantwortung liegt aber nicht allein bei der Politik. Alle wollen über Identität nationaler Art oder über Flüchtlinge sprechen, aber nicht über die Auswirkungen der Digitalisierung. Bisher tut die Gesellschaft noch so, als hätte sie nichts mit dem Thema zu tun. Wer will, schaltet das Handy aus. So einfach ist das nicht. Gesellschaft und Politik müssen das Thema in Angriff nehmen. Wenn sie das nicht tun, wird sich Deutschland früher oder später digitalisiert haben, ohne dass wir diese Entwicklung mitgestaltet haben. Das kann Folgen haben, die wir vielleicht nicht wollen.
Ist unser Bildungssystem auf die digitale Zukunft vorbereitet?
Die Meinungen, was das Bildungssystem leisten muss, gehen sehr weit auseinander. Müssen die Regeln des Datenschutzes vermittelt werden? Wie man ein sicheres Passwort setzt? Brauchen wir ein Grundverständnis über Meinungsbildung in Sozialen Medien oder wie wir diese Weltsichten mitprägen können? Jeder Didaktiker, jeder Pädagoge hat seine persönliche Sicht auf diese Thematik. Bildungsinstitutionen müssen sich fragen, welchen Auftrag sie in der digitalen Welt haben und inwiefern sich aber auch Fragen stellen, die wir immer schon behandelt haben. Sollten wir zu dem Schluss kommen, dass sich der Wandel so schnell vollzieht, dass wir auch beim Thema Bildung kaum nachkommen, müssen wir etwas ändern.
Was muss sich Ihrer Meinung nach ändern?
Man kann es sich immer noch leisten zu sagen, ich bin nicht so technikaffin, ich hab's nicht so mit Computern. Das ist eine gesellschaftliche Haltung, die heute nicht mehr gilt. Wir brauchen eine ganze Reihe von Kompetenzen, die momentan nicht vorhanden sind, und die auch nicht ausreichend ausgebildet wurden.
Die Kritik an den aktuellen Bildungsprogrammen lautet, sie seien zu kleinteilig und werden den Herausforderungen nicht annähernd gerecht? Ist das zu hart?
Die Angebote sind sehr, sehr unterschiedlich. Nehmen wir medienpädagogische Ansätze, die vermitteln, wie man mit Interactive Whiteboards arbeitet. Das ist eine an der Technik orientierte Schulung, die zeigt, wie man das Gerät an-, wie man es ausschaltet, wo man das Kabel reinsteckt. Aber die eigentliche Frage ist: Was ändert sich in meiner Unterrichtsplanung und Durchführung durch den Einsatz eines digitalen Geräts? Das Verständnis darüber ist noch viel zu wenig ausgeprägt. Wann zeige ich eine Powerpoint-Präsentation und wann sollte ich das Gerät lieber weglassen und mit den Schülern in den Dialog treten, anstatt vorne zu stehen und einfach slide, slide, slide zu zeigen? Bei dieser eigentlichen Diskussion sind wir noch gar nicht angekommen.
Wo stehen Hessens Schulen heute bei diesem Thema?
Von manchen hört man: Wir müssen da was tun, aber wir wissen nicht wie, außerdem sind wir chronisch unterbesetzt, wir haben gleichzeitig Inklusion und Migration als Thema. Wir haben bauliche Mängel. Das zweite Problem ist: Selbst, wenn Schulen gut ausgestattet sind, sind ja nicht deshalb schon die nötigen Konzepte und Kompetenzen vorhanden. Dann hat man zwar ein Feuerwerk an Multimedia, aber was bleibt bei den Schülerinnen und Schülern hängen? Es gibt Schulen, die haben ein sehr gut durchdachtes Konzept, andere würden gerne die Digitalisierung angehen, wissen aber nicht wie. Und diese Schulen brauchen dringend Unterstützung. Positiv lässt sich aber feststellen, dass es ein Grundverständnis dafür inzwischen an allen Schulen gibt, dass etwas passieren muss.
Sie sagen, wir seien von der Technik also noch immer überwältigt?
Genau. Das macht es so schwierig. Weil Lehrkräfte, aber auch alle anderen so unterschiedliche Voraussetzungen haben. Es gibt Eltern, die wollen nicht, dass ihr Kind schon früh mit digitalen Medien in Berührung kommt. Andere Eltern wollen am liebsten schon Informatik in der Grundschule, aus Sorge, das Kind finde sonst nicht den Anschluss an den Arbeitsmarkt. Wer will den Eltern sagen, ob das zutreffen wird? Da prallen verschiedene Vorstellungswelten aufeinander, für die wir noch keinen gesellschaftlichen Konsens haben. Und da sind dann auch die Lehrkräfte überfordert. Wenn Lehrkräfte von Eltern gefragt werden, was Virtual Reality mit den Kindern mache, dann fragt die Lehrkraft: "Was ist denn Virtual Reality?" Bald ist Augmented Reality das Thema, und wir reden noch immer darüber, wie man Word zum Erstellen von Dokumenten nutzen kann.
An welchem Konzept arbeiten Sie derzeit? Welches sind die Kernpunkte einer Lehre, die Sie überzeugt?
Wir liefern die Technik und die Studierenden liefern ihre Fragen. Gemeinsam versuchen wir dann, genau die kritischen Fragen zu stellen, über die wir gerade gesprochen haben. Kann man die Technik gewinnbringend einsetzen? Wenn ja, wofür? Wenn nein, unter welchen Möglichkeiten nicht? Wenn ja, welche Grenzen zeichnen diese Medien aus? Ich glaube nicht, dass Uni, Studienseminare oder Schulen solche Innovationsprozesse alleine stemmen können. Sie brauchen dabei Unterstützung. Und dann brauchen wir auch eine Art offener Fehlerkultur. Mal etwas auszuprobieren und festzustellen, dass es nicht funktioniert, dafür lässt das System Schule mit seinen engen Lehrplänen viel zu wenig Raum. Für die Universität bedeutet das ebenfalls, dass Lehre auch deutlich stärker gefördert werden müsste. Wir haben momentan einen sehr starken Fokus auf Forschung.
Was sind aus Ihrer Sicht die größten Herausforderungen an Lehrer und Bildungskonzepte?
Die Lehrkräfte müssen einen Umgang finden mit der Unsicherheit. Die Herausforderung annehmen, sich neue Kompetenzen aneignen zu müssen. Ein Leben lang. Dann müssen sie sogenannte Demokratisierungsprozesse akzeptieren und darin eine neue Rolle finden. Einige Startup-Unternehmen machen das ganz gut. Dort treten die alten Hasen als Berater auf. Sie wissen nicht, mit welchen Algorithmen die Jungen arbeiten und auch nicht, welche Zielgruppe man damit auf Facebook erreicht, aber sie können etwas zu den Inhalten sagen. Das könnte auch die Rolle der älteren Lehrkräfte sein. Nehmen wir Jugendliche, die in einem Video die Fotosynthese erklären wollen. Die Lehrkraft weiß vielleicht nicht, wie man ein Video produziert, aber sie weiß, ob die Schüler die Fotosynthese richtig oder falsch dargestellt haben. Wir brauchen diese Experten, ganz dringend sogar. Sie sollten ihren Einfluss nicht verspielen.
Ein Riesenthema in der Politik sind iPad-Klassen. Wie sinnvoll sind diese eigentlich?
iPad-Klassen können sinnvoll sein, wenn die Schule sie als strategische Entscheidung sieht, um Kompetenzen im Digitalen zu entwickeln. Wenn Lehrkräfte aber nicht bereit sind, sich mit dieser Technik ausreichend zu beschäftigen, dann sollten sie es bleiben lassen.
Deutschlehrer Fabian Geyer hat in der FAZ vor dem "unbedingten Willen der Politik zur Digitalisierung der Schulen" gewarnt. Er sieht darin einen Widerspruch zu dem Grundsatz, Medien zweckorientiert einzusetzen. Zudem laute das berufliche Ethos von Lehrern, Schüler zur Erhaltung kultureller und wissenschaftlicher Praktiken zu befähigen und sie im reflektierten Umgang mit digitalen Medien zu stärken. Ist die Kritik profund?
Ja, wenn es darum geht, dass wir mehr über die Technik reden, als darüber, wie wir mit ihr umgehen. Ich glaube aber nicht, dass wir die Schule als digitalfreien Raum einrichten sollten. Es dürfte heute auch schwierig sein, Politikunterricht zu machen, ohne digitale Medien zu bemühen. Und die These, Kinder sollten so spät wie möglich mit den Gefahren des Internets in Berührung kommen, gibt es ja auch. Die halte ich für falsch. Ich glaube einfach nicht daran, dass es sowas wie das natürliche Medium gibt und das unnatürliche Medium. Also zu behaupten, das Buch sei ein natürliches Medium, mit dem das Kind auf natürlichem Wege lerne.
Sondern?
Ich hatte auch schon die Diskussion darüber, ob man Texte überhaupt auf einem Smartphone lesen könne, das sei doch nur so groß wie ein Reclamheft. Hätten wir die dann auch nicht lesen dürfen, weil sie so klein sind? Digital oder nicht digital, real oder nicht real: Darum geht es doch überhaupt nicht! Es geht doch um den Inhalt. Die meisten Kinder in der Menschheitsgeschichte haben niemals ein Buch zu Gesicht bekommen. Es herrscht die Vorstellung, dass so, wie wir in den letzten hundert Jahren unsere Kinder erziehen, es richtig sei. Es ist eine sehr elitäre Sichtweise, dieses Bild eines Kindes auf dem Schoß eines Elternteils, das ihm das Wimmelbuch erklärt oder ein literarisch hochwertiges Kinderbuch vorliest. Die Leute können keine Briefe mehr schreiben, hört man auch oft. Das mag sein, aber die Anzahl derer, die im 19. Jahrhundert literarische Schmuckstücke verfasst haben, lässt sich an ein paar Händen abzählen. Statt diesem Bildungsideal hinterherzulaufen, sollten wir uns fragen: Was sind denn heute eigentlich die Äquivalente zu den Briefen? Welche Blog-Einträge sind von hohem qualitativen Wert? Wo entwickelt sich Sprache heute?
Die digitalen Medien durchdringen unseren Alltag immer tiefer. Das Bewerten von Quellen und Informationen wird immer wichtiger. Müssen Schulen auch journalistische Grundfertigkeiten lehren?
Eigentlich war es doch schon immer die Idee, dass sich jeder mündige Bürger eine eigene Meinung bilden können muss, dass er verschiedene Informationen zur Kenntnis nimmt, diese abwägt und für sich eine Entscheidung trifft. Das ist Grundbestandteil eines jeden politikwissenschaftlichen oder geschichtlichen Unterrichts. Vielleicht müssen wir uns nur klar werden, dass wir diese Fähigkeiten nicht nur bei den klassischen Medien wie Zeitungen anwenden müssen, sondern auch in den Kommentarspalten, bei viel geteilten Beiträgen bei Facebook, also da, wo Meinungsbildung und Austausch passiert.
Schule der Zukunft: Wie sieht Ihre Vision für diese aus?
Die Schule der Zukunft sehe ich stärker im Bereich der Projektarbeit. In den USA gibt es Modelle wie die School of One, in der Lehrkräfte stärker als Coaches auftreten. Der Experte tritt einen Schritt zurück und unterstützt und berät, aber die Schüler versuchen selbst, ihren Weg zu finden. Dafür fehlt den Schulen in Deutschland der Freiraum und den Lehrkräften die Unterstützung institutioneller und finanzieller Art. Ich fürchte, wir klammern uns noch zu sehr an einer gesellschaftlichen Vorstellung fest, dass dieses so und jenes so zu sein hat.