Einheitsfeier in Mainz: Steinmeiers Rede gegen Mauern, gegen Nationalisten und Schlussstrich-Zieher
Monatelang hat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier geschwiegen zu Unmut und Unzufriedenheit im Land, zum Wahlkampf und dann zum Wahlergebnis. Beim Tag der Deutschen Einheit in Mainz ist er mit einer großen Rede aufgetreten.
Von Reinhard Breidenbach
Leitung Politikredaktion, Chefreporter
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Foto: Harald Kaster
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MAINZ - Mai 1989. US-Präsident George Bush senior beschreibt in der Mainzer Rheingoldhalle die Vision eines geeinten Deutschland. September 2015. Bundespräsident Joachim Gauck sagt in der Mainzer Staatskanzlei angesichts der Flüchtlingskrise: „Unser Herz ist weit. Doch unsere Möglichkeiten sind endlich.“ Es gibt sie schon, die großen Reden in der Stadt Gutenbergs. Dem Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier, einem herausragenden Diplomaten mit Feingespür, muss klar gewesen sein, dass eine solche von ihm verlangt wurde beim Festakt zum Tag der Deutschen Einheit in der Rheingoldhalle. Denn allzu lange hatte er geschwiegen – zur Unzufriedenheit im Land, zu Unmut bis hin zum Hass. Steinmeiers Vor-Vor-Vorgänger Köhler war 2010 letztlich an zu langer Schweigsamkeit gescheitert.
Steinmeier aber gelingt an diesem Feiertag ein Befreiungsschlag. Eine starke Rede, 30 Minuten, jeder Satz und wichtiger: jeder Tonfall sitzt. Der Applaus brandet mächtig. Der Bundespräsident legt sich ein Fundament. Fast wirkt es, als habe seine Amtszeit nicht schon im März, sondern inhaltlich gerade erst jetzt begonnen. Und das Land tut gut daran, ihm zuzuhören.
Das Umfeld kommt Steinmeier sehr zustatten. Feierlichkeit, aber heiter. Bilder einer Flusslandschaft, der Vater Rhein, Sinnbild des friedlichen Europa, als Puppenfigur, umrahmt von stolzen Klängen. Der „Ode an die Freude“ etwa, und von einem Stück aus Wagners „Götterdämmerung“. Die Kanzlerin lauscht, auch nach dieser – trotz dieser – Bundestagswahl fern jeder Kanzlerinnendämmerung. Steinmeier, der eine Präsidentendämmerung souverän abwendet. Und eine Ministerpräsidentin Dreyer, deren Optimismus prägend wirkt, auch wenn sie wegen der Bundestagswahl die politische Kultur in Deutschland „auf dem Prüfstand“ sieht.
Steinmeier appelliert und mahnt
Steinmeier appelliert, mahnt eindringlich, aber nicht oberlehrerhaft. Der Vater Rhein habe einen bunten Migrationshintergrund, hatte es im Puppenspiel geheißen. Flüchtlinge, ein brisantes Thema – für den Präsidenten Steinmeier, mehr noch für den Sozialdemokraten Steinmeier. Er sagt: „Die Not der Menschen darf uns niemals gleichgültig sein.“ Aber sein Credo ist letztlich ein sehr pragmatisches, eines, das inhaltlich nichts anderes sagt als Gauck im September 2015, das dennoch viele linke Politiker und Bürger vielleicht innerlich aufheulen lässt: „Wir werden den politisch Verfolgten nur dann gerecht werden können, wenn wir die Unterscheidung darüber zurückgewinnen, wer politisch verfolgt und wer auf der Flucht vor Armut ist.“ Armutsflucht begründe nicht dieselben Rechte wie der Status als politisch Verfolgter.
Die „Neuen“ nennt Steinmeier später die Migranten noch. „Für die Neuen heißt es, unsere Sprache zu lernen, das Grundgesetz zu akzeptieren, die Gleichberechtigung von Mann und Frau.“ Das Wichtigste an dieser – unstrittigen – Aussage ist ihr kristallklarer Ton.
Steinmeiers Rede „nüchtern“ zu nennen, träfe es nicht. Es ist seine Art von Pragmatismus, manchmal mehr, manchmal weniger mitfühlend. Aber er sieht und trifft den Kern der Dinge schon sehr gut und behält die Nerven. Als Außenminister war das seine Lebensversicherung. Die Berliner Mauer sei weg, sagt er, aber nun gebe es andere Mauern, solche zwischen Jung und Alt, Arm und Reich, vor allem die Mauern aus Entfremdung, Enttäuschung, Wut. Hinter diesen Mauern werde Misstrauen geschürt gegenüber der Demokratie und ihren Repräsentanten. Er hat eine Forderung an die Abgeordneten des kommenden Bundestags: „Sie können zeigen, dass Demokraten bessere Lösungen haben als andere Demokraten zu beschimpfen.“
Lehren aus dem Holocaust gehören zum Deutsch-Sein
Und dann zielt der Präsident knochentrocken auf die AfD, ohne sie beim Namen zu nennen. „Die Verantwortung vor unserer Geschichte kennt keine Schlussstriche – erst recht nicht für die Abgeordneten des Deutschen Bundestags.“ Zum Deutsch-Sein und zur Demokratie gehörten unverhandelbar: „für nachwachsende Generationen zwar nicht persönliche Schuld, aber bleibende Verantwortung, die Lehren zweier Weltkriege, die Lehren aus dem Holocaust, die Absage an völkisches Denken, an Rassismus und Antisemitismus.“ Nicht zuletzt: die Verantwortung für die Sicherheit Israels. Mehr und Deutlicheres lässt sich dazu kaum sagen. Heimat, auch das betont Steinmeier, dürfe man nicht den Nationalisten überlassen. Mächtiger Applaus.
Er höre jetzt oft von Menschen: „Ich versteh‘ mein Land nicht mehr.“ „Da gibt es etwas zu tun in Deutschland“, grollt Steinmeier. Aber letztlich will er optimistisch bleiben: Die Besserwisser und ewig Empörten – die seien es nicht, die Deutschland prägen.