Seit einem Jahr läuft in der Wiesbachschule in Grävenwiesbach das Modellprojekt Digitalisierung in der Grundschule. Im Interview ziehen der Rektor der Wiesbachschule, Jan...
REGION/GRÄVENWIESBACH. 2019 soll Hessen den Vorsitz der Kultusministerkonferenz übernehmen. Ein Kernauftrag: Entwicklung einer deutschlandweiten Digitalstrategie für Schulen. Wie digital sind die hessischen Klassenzimmer, wie digital sollten sie sein? In einer mehrteiligen Gesprächsreihe mit Experten, Lehrern, Schülern, aber auch Kritikern wird dieses Thema aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet. In Teil IV erklären der Rektor der Wiesbachschule in Grävenwiesbach, Jan Drumla und Konrektor Sebastian Wauch, wie der digitale Wandel gelingen kann und was die nächsten Schritte sein müssen, damit ihr Pilotprojekt Breitenwirkung entfalten kann.
Ist das digitale Klassenzimmer alternativlos?
Drumla: Für die Zukunft ja. Die digitalen Medien müssen in die Klassenzimmer rein. Als Ergänzung zum herkömmlichen Klassenzimmer. Wenn es sinnvoll ist, holen wir uns die digitale Welt mit dazu, wenn es keinen Sinn macht, lassen wir sie weg.
Ihr Fazit nach einem Jahr Pilotschule?
Wauch: Das Spektrum an Möglichkeiten, den Unterricht zu gestalten, hat sich massiv vergrößert.
Was sind die konkreten Erfolge?
Drumla: Wir schaffen es immer besser, Kinder für das Thema Medienmoral zu sensibilisieren. Den Kindern beizubringen, dass es im Internet nicht nur Ballerspiele gibt, sondern auch Sachen, die sinnvoll sind. Wie man ein Tablet, ein Smartphone bedient, wissen die meisten schon, bevor sie in die Schule kommen. Im Fach Medienethik sollen sie lernen, mit dem Internet umzugehen. Wir wollen einen Beitrag dazu leisten, ein Kind zu einem mündigen Bürger auch in der digitalen Welt zu machen. Auf dem Weg dorthin ist das digitale Klassenzimmer ein wichtiges Puzzleteil.
Wie hat die digitale Technik die Inklusion konkret unterstützt?
Drumla: Der Inklusionsgedanke hat zwei Seiten: Die eine sind die Schüler. Der Einsatz digitaler Medien versetzt uns in die Lage, den Kindern in ihrer Unterschiedlichkeit besser gerecht zu werden. Lernauffällige Kinder müssen 150 Prozent ihrer Kraft aufbringen, wo ein guter Schüler nur 80 Prozent braucht. Mithilfe der Tablets können wir differenzieren und das eine Kind, das Einmaleins der Zwölf trainieren lassen, während sich das andere noch mit der Zwei quält. Und für die Lehrer ist es viel leichter, dem Inklusionsgedanken zu dienen, weil sie nicht ständig zum Kopierer rennen müssen. Motivation, Einzelförderung und Effizienz sind Voraussetzungen, damit Inklusion gelingen kann.
Was muss noch besser werden?
Drumla: Große Sorgen hat uns lange die Lehrerfortbildung gemacht. Erst seit ein paar Wochen können wir allen Lehrern ein Angebot machen, und zwar mit dem Medienzentrum des Hochtaunuskreises als Partner. Eine aktuelle Sorge ist die Bezahlbarkeit von Lehrbüchern. Damit werden wir noch Jahre zu tun haben. Ist es lizenzrechtlich in Ordnung, ein einmal gekauftes E-Schulbuch an mehreren Boards zu nutzen? Die Bezahlbarkeit ist auch bei Lern-Apps ein Problem. Und dass es noch keine Instanz gibt, die Apps bewertet. Es gibt einen riesigen Pool, allein zum Einmaleins. Unheimlich viele sind Schrott. Andere sind zwar besser, enthalten aber zu viel Werbung.
Wie haben Sie es geschafft, die Lehrer mitzunehmen?
Wauch: Am Anfang nicht besonders gut, das muss man selbstkritisch sagen. Wir haben den Zuschlag als Pilotschule im Frühjahr letzten Jahres bekommen. Nach den Sommerferien sollte es losgehen. Das Zeitfenster, die Kollegen vorzubereiten, war sehr knapp. Geholfen hat uns, dass der Markt so sensibel auf unsere Bedürfnisse reagiert hat. Da bin ich immer wieder erstaunt. Bestes Beispiel ist die Tafel. Die Kollegen haben uns zurückgemeldet, dass sie die Flügel vermissen, die Möglichkeit, etwas mit Magneten anzupinnen, ein Klassiker in der Grundschule. Daraufhin hat der Schulträger eine Firma beauftragt, die für uns ein Board mit Flügeln entwickelt hat, das magnetisch ist! Diese digitale Tafel wurde im Frühjahr auf der "Didacta" vorgestellt. Und die Schulen, die jetzt ausgestattet werden, bekommen direkt diese Tafel.
Auch Eltern sind eingebunden. Wie? Und wie fällt deren Fazit aus?
Drumla: Negative Rückmeldungen gibt es keine. Wenn sie kritisch wären, würden sie sofort bei mir im Büro stehen. Dass sie das nicht tun, heißt, sie finden unser Konzept okay. Und ein paar Leute sagen auch: Herr Drumla, das finde ich toll. Die grundsätzliche Frage, die man stellen muss, lautet aber doch: Inwieweit ist es überhaupt zielführend, wenn Eltern und genauso Lehrer bei der Ausstattung von Schule mitreden? Oder brauchen wir einen Standard, der über den Willen von Eltern und Lehrern hinausgeht? Muss es eine Instanz geben, die einen Standard setzt, der gehalten, der evaluiert wird? Ich würde die Frage mit Ja beantworten. Die Rückmeldungen von Eltern und Lehrern sind natürlich wichtig. Nicht, dass ich da falsch verstanden werde.
Elternbeirat, Elternschaft, Lehrerkollegium, Schüler: Wie hat das Pilotprojekt die Schule verändert?
Wauch: Wir sind ein Stück weit der Leuchtturm in diesem Bereich. Und das hat positive Auswirkungen, auch auf die Gemeinde. Die Wiesbachschule macht den Standort Grävenwiesbach attraktiver. Es kommen Leute hierher, die sich sonst niemals für uns interessiert hätten, Bundestagsabgeordnete kommen sogar extra rübergefahren. Wir sind so ein bisschen aus dem Hintertaunus-Winterschlaf aufgewacht und eine kleine, selbstbewusste Institution geworden.
Es geht um "vernetztes Lernen": Hat die stille Studierstube ausgedient?
Drumla: Meiner Meinung nach Ja. Es ist in Zukunft nicht mehr zielführend, dass der Lehrer als Einzelkämpfer vor seiner Klasse steht. Lehrer, die Parallelklassen unterrichten, müssen sich zusammenschließen. Jeder stellt seine Vorbereitungen ins Netzwerk und alle profitieren davon. Nur so wird die hohe Arbeitsbelastung relativiert. Und auch die Schüler müssen lernen, sich miteinander zu vernetzten, um zukünftig in der Gesellschaft bestehen zu können. Und das muss im Kleinen angebahnt werden.
Wann sollten Lehrer und Schüler digitale Tafeln und iPads nutzen und in welchen Momenten nicht?
Drumla: Wenn ich die Knete nutzen kann, wenn ich den Bleistift nutzen kann, dann nutze ich erst einmal die Knete oder den Bleistift. Aber das digitale Medium ist nicht wegzudenken, wenn es etwas besser kann als die Knete oder der Stift. Bei allen Themen, bei denen Kinder etwas automatisieren müssen, beim Einmaleins, bei Dingen, die immer wieder wiederholt werden müssen, damit sie sich einschleifen, ist das Digitale unübertroffen effizient. Wir sind uns doch alle einig, dass Kinder heutzutage zu viel sitzen, 60 Prozent der Kinder sind zu dick. Da bin ich doch nicht so dumm und lasse sie ständig am Tablet arbeiten. Wenn es geht: Bewegung und raus in die Natur. Es ist wichtiger, das Blatt anzufassen, zu riechen, zu schmecken, als ein Erklärvideo zum Salat anzuschauen. Aber wenn es ein Video schafft, Interesse für ein Thema zu wecken, dann hole ich das Video dazu.
Warum muss die Vermittlung von Medienkompetenz schon in der Grundschule beginnen?
Wauch: Weil die Kinder dafür aufgeschlossen sind. Weil sie Erfahrung mit der Medienwelt haben. Den Erstklässlern von heute muss ich die Wischgeste nicht mehr erklären. Aber wir Lehrer müssen etwas kanalisieren, das im Elternhaus nicht immer richtig läuft. Das ist auch ein gesellschaftlicher Auftrag von Schule, den wir annehmen und mit großer Ernsthaftigkeit umsetzen. Weil wir uns sonst Sorgen machen müssen um die zukünftige Generation.
Kritiker sagen, dass ein ganzheitliches Konzept für die hessische Schullandschaft fehlt. Was müssen die nächsten Schritte sein, damit Ihr Projekt Breitenwirkung entfalten kann?
Drumla: Aufklärung, Medienwirksamkeit und vor allem: Unterstützung durch die Politik. Nur die Politik kann einen Standard setzen. Kultusministerium und Schulträger müssen zusammenarbeiten. Damit Lehrer einheitlich fortgebildet und Kinder nach einem Standard unterrichtet werden. Wir kennen doch Standards, die aus einer gesellschaftlichen Notwendigkeit heraus entstehen. In den 60er-Jahren wurde Sexualerziehung in den Lehrplan aufgenommen. Dann die Fahrradausbildung. Dieser Standard muss auch in der Digitalisierung gesetzt werden. Es ist doch nicht zielführend, wenn an der einen Schule ein Notebookwagen gekauft wird, an der Nachbarschule Tablets und an der dritten das modernste Board, obwohl es kein Internet gibt. Es hängt bei vielen Landkreisen am Geld. Und da ist wiederum die Politik gefordert, dieses Geld bereitzustellen.
Grundschule 2030. Wie müssen wir uns das vorstellen? Welche nicht-digitalen Kulturtechniken sind für Lehrer und Schüler zeitlos?
Drumla: Mit dem Bleistift zu malen, mit dem Füller zu schreiben, ein Buch zu lesen, es in der Hand zu haben. Das wird 2030 noch so sein. Aber die Gesellschaft wird sich so verändern, dass bestimmte Sachen ohne Smartphone, ohne Computer, nicht mehr funktionieren. Wenn wir unser Arbeitsfeld anschauen, schon heute, wie viel schreiben wir noch mit der Hand? Wenig. Und zukünftig noch viel weniger. 2030 werden wir in den Computer hineinsprechen und der schreibt dann für uns.
Zwingt uns der technologische Wandel, Bildung neu zu denken und zu definieren?
Drumla: Ja. Bildung hat sich immer verändert. Bildung ist nicht starr. Früher gab es bis zu acht Jahrgänge in einer Klasse. Ich selbst habe noch zwölf Stunden Deutschunterricht gehabt. Heute haben die Kinder noch sechs - zugunsten anderer Fächer, die heute auf dem Lehrplan stehen. Weil das, was Kinder können müssen, heute viel breiter ist als noch vor 10, 20 oder 30 Jahren.