Die Frankfurter Gemeinde stellt fest: Auch der Antisemitismus überdauert die Zeit
"Judenaktion" ist so eines dieser Schimpfwörter, die man neuerdings in Schulen zu hören bekommt. "Du Jude" und "Schwuler" gehören auch dazu. Das alles sind nach den Worten der Frankfurter Kulturwissenschaftlerin Julia Bernstein derzeit gängige Rüpeleien auf den Schulhöfen. Pädagogen wissen zwar, dass diese Wörter oft gedankenlos benutzt werden und vor allem provozieren sollen. "Nicht hinter jedem Schimpfwort steckt eine Ideologie", sagt Meron Mendel, Direktor der Bildungsstätte Anne Frank. Doch sind die Schmähungen für die jüdische Gemeinde ein Alarmsignal.
Von Rainer H. Schlender
Leitung Reporter Rhein-Main/Südhessen
Mit traditioneller Kopfbedeckung beobachtet ein gläubiger Jude in der Westend-Synagoge in Frankfurt das Geschehen im Saal. Foto: dpa
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FRANKFURT - "Judenaktion" ist so eines dieser Schimpfwörter, die man neuerdings in Schulen zu hören bekommt. "Du Jude" und "Schwuler" gehören auch dazu. Das alles sind nach den Worten der Frankfurter Kulturwissenschaftlerin Julia Bernstein derzeit gängige Rüpeleien auf den Schulhöfen. Pädagogen wissen zwar, dass diese Wörter oft gedankenlos benutzt werden und vor allem provozieren sollen. "Nicht hinter jedem Schimpfwort steckt eine Ideologie", sagt Meron Mendel, Direktor der Bildungsstätte Anne Frank. Doch sind die Schmähungen für die jüdische Gemeinde ein Alarmsignal.
"Der Antisemitismus wächst", sagt Rabbiner Avichai Apel bei einem Gespräch in der Frankfurter Westend-Synagoge. Und viele Juden fühlen sich mit dem Gefühl der Bedrohung allein gelassen. "Die Beschimpfung", sagt Julia Bernstein, "trifft die Menschen oft weniger schwer als das Schweigen der anderen." Mit diesen anderen, etwa Mitschülern, müsse man sprechen, sagt Bernstein: über Gemeinschaft und das Miteinander. Hingegen sei es falsch, auszurasten und die Schuldigen abzustrafen, fügt sie hinzu. Denn vielfach seien diese Jugendlichen selbst Opfer von Vorurteilen. "Viele Schüler diskriminieren und erfahren Diskriminierung", sagt der erfahrene Lehrer Manfred Levy, der am Pädagogischen Zentrum des Fritz-Bauer-Instituts und des Jüdischen Museums das Schulprojekt "Anti Anti" betreut. Nach seiner Erfahrung "denken junge Menschen nicht an Religion, wenn sie Jude sagen".
Der richtige Umgang mit antisemitischen oder rassistischen Diskriminierungen beschäftigt auch Mendel und seine Bildungsstätte, die in Hessen jedes Jahr rund 90 pädagogische Tage veranstaltet, um den Schulen Beistand zu leisten. Antisemitische Angriffe gibt es aber nicht nur in der Schule. Mendel berichtet von Hassmails gegen Juden in Betrieben und betont: "Die Übergriffe sind ein Problem der Gesamtgesellschaft." Es sei auch falsch zu glauben, sie gingen überwiegend von Muslimen aus. Allerdings bieten der Nahost-Konflikt und die Politik Israels in vielen Fällen den Hintergrund oder gar die Rechtfertigung für antisemitische Ausfälle, die nach Beobachtung Apels dazu geführt haben, dass sich 99,5 Prozent der jüdischen Gemeindemitglieder nicht öffentlich zu ihrem Glauben bekennen.
FRANKFURTS JÜDISCHE GEMEINDE
Wie kaum eine andere Stadt in Deutschland besitzt Frankfurt eine über Jahrhunderte gewachsene jüdische Tradition. Zugleich wurden die Juden immer wieder verfolgt. In Frankfurt wurde das erste Ghetto für Juden in Deutschland errichtet. Die Anfänge jüdischen Lebens in Frankfurt reichen bis ins 12. Jahrhundert zurück. Zu Verfolgungen kam es in den Jahren 1241 und 1349. 1360 durften sich jüdische Familien dann wieder in Frankfurt niederlassen. 1464 wurde den Juden ein Gebiet an der Stadtgrenze zugewiesen. Daraus entstand die Judengasse, das Frankfurter Ghetto. Dort lebten 3000 Menschen auf engstem Raum. Das Ghetto bestand bis Ende des 18. Jahrhunderts. Nach der bürgerlichen Gleichstellung zogen die Juden in andere Stadtteile um. Vor 1933 zählte Frankfurts jüdische Gemeinde mehr als 30 000 Mitglieder. Der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber lehrte damals an der Goethe-Universität. Im Nationalsozialismus flohen viele jüdischen Familien ins Ausland. Rund 12 000 starben in den Vernichtungslagern der Nazis.
Auf etwa 7000 ist deren Zahl mittlerweile wieder angewachsen. Den Massenmord an Juden in Nazi-Deutschland hatten nur wenige Mitglieder der Gemeinde überlebt, die auf eine wahrhaft tausendjährige Geschichte zurückblicken kann. Ohne die jüdischen Bürger wäre die Stadt Frankfurt in Handel, Wissenschaft und Kultur kaum zu solcher Blüte gelangt.
Nach dem Krieg waren es vor allem überlebende Juden aus Osteuropa, die sich wieder in Frankfurt ansiedelten. Von dort und aus Russland kommen auch die meisten Zuwanderer, die in der jüngeren Vergangenheit zum Wachstum der Gemeinde beigetragen haben.
Und der geht es, trotz aller Widrigkeiten, recht gut. "Wir leben auf einer Insel", sagt Rabbiner Apel, der in Israel geboren wurde und vor 16 Jahren nach Deutschland kam. "Die Gemeinde ist stark, wir haben ein aktives soziales Leben." Es gibt Kindergärten, ein Gymnasium und Altenzentren. Oberbürgermeister Peter Feldmann (SPD) gehört der Gemeinde an, unter deren Dach orthodoxe und liberale Strömungen nach Apels Schilderung gut miteinander auskommen.
Wie man miteinander auskommt, können Frankfurter auch im jüdischen Turn- und Sportverein Makkabi erfahren, der sich vor etwa 13 Jahren für Nichtjuden geöffnet hat - "weg vom Ghetto", wie Vereinspräsident Alon Meyer sagt. Heute stehe der Verein "für ein offenes Deutschland, in dem alle Religionen sich entfalten können". Von den gut 1300 aktiven Mitgliedern des Vereins mit dem Davidstern ist nur noch jeder Dritte ein Jude. Derzeit biete man sogar Schwimmunterricht für 28 moslemische Frauen an, berichtet Meyer und verweist darauf, dass man junge Menschen über den Sport am besten erreichen könne, um Vorurteile abzubauen.
Auch nach Ansicht von Manfred Levy ist das beste Mittel gegen Antisemitismus die persönliche Begegnung mit Juden. Der lässige Lehrer erzählt in seiner ruhigen Art, dass viele Schüler in den Workshops gegen Diskriminierung ziemlich überrascht seien, wenn er bekennt: "Ich bin Jude." Donnerwetter, so haben sie sich einen Juden nicht vorgestellt.