JÖRG SCHIMITZEK
Seit 2013 läuft Jörg Schimitzek öffentlich gegen Missbrauch an. Entweder bei eigens organisierten Läufen oder als Teilnehmer bei öffentlichen Läufen. Seine Präsenz nutzt er, um Spenden für Missbrauchs-Opfer zu sammeln. Zudem will er ein Sprachrohr für Betroffene in der Öffentlichkeit sein. 2015 gründete er seine Laufschule Westerwald. Die 1,5-jährige Ausbildung zum Lauftherapeuten (DLZ) hat Schimitzek am Deutschen Lauftherapiezentrum in Bad Lippspringe absolviert. Gelegenheit, sich über Erfahrungen auszutauschen, sowie aktuelle Laufevents gibt es auf seiner Homepage www.joerg-laeuft.de. Angebote der Lauf-Therapie und Einsteigerkurse unter www.laufschule-westerwald.de. Die Dringlichkeit, dem Missbrauch Öffentlichkeit und Opferhilfe entgegen zu setzten, machte der Lauftherapeut an Zahlen fest: Seit Jahresbeginn sind alleine in Deutschland mehr als 29 000 Missbrauchs-Fälle gemeldet worden. Die Dunkelziffer dürfte noch höher sein. (glb)
REICHELSHEIM - Ohne Stühle nachzustellen, ging es nicht, so groß war das Interesse an dem Vortrag von Jörg Schimitzek im evangelischen Gemeindehaus in Reichelsheim. Dabei versprach der Abend kein leichtes Thema: Missbrauch, seelischer wie sexueller, Laufen als Therapie und Selbsthilfemaßnahme.
„Bleib nicht an dem hängen, was dich verletzt hat, steh auf und geh weiter, die Welt wartet auf dich“, sagte Werner Niebel, Vorsitzender der veranstaltenden Selbsthilfegruppe (SHG) Angst-Panik-Depression, in seiner Begrüßungsrede. Mit öffentlichen Informationsabenden wie diesem, betonte Niebel, will die SHG Betroffenen Mut machen und die Öffentlichkeit aufklären.
Gute zwei Stunden berichtete Schimitzek aus seiner Erfahrungswelt. Dem Missbrauch im Kindesalter, den gut drei Jahrzehnten des Schweigens und dem neuen Leben. Letzteres, so der heutige Laufschulen-Leiter, verdanke er, neben dem Verständnis seiner Frau, dem gebrochenen Schweigen und vor allem dem Laufen. Heute legt der schlanke 46-Jährige, der früher gut 100 Kilo wog, durchschnittlich acht Kilometer täglich laufend zurück. Nach langem psychischen Leiden, einer posttraumatischen Belastungsstörung, einhergehend mit vielen Begleitsymptomen wie Depressionen, Angst- und Panikstörung, insbesondere gegenüber Menschen, früher zudem selbstverletzendes Verhalten, Ticks und Zwangshandlungen, läuft er heute seiner wieder entdeckten Identität Kilometer für Kilometer entgegen. Eine absolute Heilung gebe es wohl nicht, gesteht der Läufer, aber heute kann er seine Blockaden deutlich besser in den Alltag integrieren, ist ein anderer Mensch geworden.
Obwohl Jörg Schimitzek früher weder über seine Geschichte reden, noch vor Publikum treten konnte, meistert er heute seine Auftritte in der Öffentlichkeit. Weitergeben, was hilft, und gegen Missbrauch stark machen, das will er. „Oft ist es nicht nur der Missbrauch allein, es sind auch die Begleitumstände, die krank machen“, betont er. Bevor der massive Missbrauch über zwei Jahre durch den zeitweiligen Stiefvater begann, war seine Kindheit bereits massiver Belastung ausgesetzt. Die Mutter war psychisch schwer krank, er stand immer in Verantwortung und konnte kaum Kind sein. Besonders nach der Scheidung der Eltern. Verarmt sei die Mutter mit ihren Kindern in ein Dorf voller schmucker Einfamilienhäuschen gezogen, seine Familie mit späterem Stiefvater bezog eine „Bruchbude“, ein Haus ohne Toilette, Dusche, Heizung. Der Stempel, „asozial“ zu sein, und Mobbing holte ihn in dem Dorf wie in der Schule schnell ein. Es waren die Begleitumstände, sagt er heute, die ihn damals zum leichten Opfer machten. Niemand war zum Reden da, schon gar nicht die Mutter, denn die Botschaft hätte sie in den nächsten Suizidversuch getrieben. Nach zwei Jahren zog der Täter aus, aber die Folgen, Opfer gewesen zu sein, blieben.
Als Teenager versuchte Schimitzek seine Probleme mit Alkohol und leichten Drogen zu verdrängen. Nie sollte seine Familie so leben müssen wie er, war sein Anspruch. Der aus seiner heutigen Sicht weit über das Ziel hinaus schoss. In seinem Beruf als Umweltschutz-Ingenieur gab er alles, bis hin zur Begründung, für Aufarbeitung keine Zeit zu haben. Bis er vor einigen Jahren mit dem Laufen begann.
Eine fantastische Reise durch die Landschaft
„Laufen ist für mich Reisen in zweierlei Sinn“, erklärte Schimitzek. Eine fantastische Reise durch die Landschaft und eine Reise zur ihm selbst. „Je intensiver ich gelaufen bin, umso näher bin ich an meine eigene, zuvor verlorene, Identität gerückt.“ Der Wald ist Fluchtpunkt, Seelenoase und Kraftquelle zugleich geworden. „Wer lernt, in die Natur wieder Vertrauen zu haben, gewinnt es auch im Leben“.
Neben vielen Kilos hat er so auch andere psychosomatische Beschwerden verloren: Asthma, mangelnde Kondition, Arthose, Fehlhaltungen. So gestärkt, wagte er seiner Geschichte öffentlichen Raum zu geben. Trotz Verjährung (in früheren Fällen nach zehn Jahren) zeigte er den Täter an.