Auf der Alme bei Ober-Ostern wird Butter gemacht: Bilder vom ganz normalen Leben im Jahr 1907 sind im Bildband von Manfred Göbel zu sehen.
MICHELSTADT/OBER-OSTERN. Im Kreise der Kinder wird 1907 auf der Alme Ober-Ostern Butter gemacht. Töpfer Walter jr. ist in Michelstadt gerade in seiner Werkstatt am Arbeiten. Weber Fischer mit seinem Rauschebart und Käppi sitzt ebendort vor dem Webstuhl und ist in sein altes Handwerk vertieft. Das sind nur drei von 160 historischen Bildern Friedrich Maurers, die der Historiker Dr. Manfred Göbel im Buch „Leben und Arbeiten im hessischen Odenwald“ zusammengetragen hat. Es eröffnet einen seltenen und wertvollen Blick in den Alltag der Menschen vor mehr als 100 Jahren.
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Göbel war seit jeher fasziniert von der großen Geschichte „im Kleinen“. Bei seinen regionalhistorischen Recherchen stieß er bereits Anfang der 1980er Jahre auf Maurer und dessen reich bebildertes Odenwald-Buch von 1914. „Die Odenwald-Sammlung passte in die Zeit“, weiß der Historiker. Denn zu Beginn des 20. Jahrhunderts fand im Zuge der raschen Industrialisierung und Verstädterung eine Rückbesinnung auf die Natur statt. Volkskunde und Heimatbewegung gewannen an Bedeutung. Die Bewahrung des ländlichen Lebens und ein nostalgischer Blick darauf sollten kompensieren, dass – wie heute – der Trend Richtung Metropole ging. „Maurer hatte aber einen eher nüchternen Blick darauf“, erläutert Göbel.
Der Arzt war schon früher viel gereist, auch in die USA oder Kanada. „Er muss Geld gehabt haben“, meint der Chronist. „Den Odenwald kannte Maurer natürlich auch“, betont der Historiker. Über den gleichnamigen Klub und die Verbindung zum Darmstädter Stadtmuseum ergab sich die Grundlage für die ausgedehnte Tour 1907. Das um die Jahrhundertwende ausgebaute Eisenbahnnetz mit Odenwald-, Überwald-, Weschnitztal- und Gersprenztalbahn machte die Reisen ins „Kerngebiet“ möglich.
Der Odenwaldklub dürfte dem Fotografen viele (private) Türen geöffnet haben, schätzt Göbel. Auf diese Weise entstanden Aufnahmen aus dem Alltag der Dorfbevölkerung, die in dieser Tiefe außergewöhnlich sind. „Landschaftsmotive gibt es aus dieser Zeit genug“, erläutert der Historiker. Das Faszinierende an Maurers Motiven ist der Alltag. Vor mehr als 100 Jahren war in bestimmten Ecken des Odenwalds „ein Fotograf eine Sensation“, sagt er. Eine Kuh wird beschlagen, ein Schmied steht am Amboss, eine alte Frau schält Kartoffeln: „Für solche Bilder gaben die Fotografen damals kein Geld aus“, schildert er.
Maurer dagegen „zeigt das Leben, wie es wirklich ist“. Er glorifiziert nicht „die gute alte Zeit“, sondern im Blick auf die damaligen Wohnverhältnisse „wird die Mühsal des Lebens deutlich“. Dazu kommen Fotostrecken von alten Handwerksberufen wie Sattelbinder, Sieb-, Pumpen- oder Schachtelmacher und Nagelschmied, die Göbel als „kostbar“ bezeichnet. Manche, wie Spielzeugmacher in Lützelbach oder Elfenbeinschnitzer in Erbach, waren auch regional verdichtet.
Drei Fotoalben sind erhalten geblieben
Der passionierte Geschichtsforscher machte sich vergangenen Sommer auf die 111 Jahre alte Spur Maurers und reiste durch den Odenwald, fotografierte aus den gleichen Perspektiven heraus. Gerade ältere Leute „konnten oftmals die historischen Motive zuordnen“, freut sich Göbel. Auf der Alme Ober-Ostern traf er eine Frau, die den Enkel des früheren Besitzers Leonhard Müller geheiratet hatte – und über ein paar Ecken mit dem damaligen Förster verwandt ist, der auf einem alten Bild die Kinder nicht zum Heidelbeeren Sammeln in den Wald ließ. In den drei erhalten gebliebenen Fotoalben von Friedrich Maurer mit insgesamt 724 Fotos bilden solche aus dem Raum Weschnitz, Ober-Ostern (Alme) sowie Hammelbach und Fürth einen nicht zu übersehenden Schwerpunkt. Überliefert sind stolze 62 Bilder aus Ober-Ostern/Alme. Die Motive wurden in der Regel 1907 aufgenommen. Drei Fotoalben sind erhaltenen geblieben. Alle anderen Bilder Maurers verbrannten gegen Ende des Zweiten Weltkriegs bei der Bombardierung der Stadt Darmstadt.