BEERFURTH - Eltern, die sich überfordert fühlen, erst recht, seit es diese Pandemie gibt. Kinder, die sich in der Schule verweigern oder auch zuhause, wenn es etwa ums Aufräumen geht. Jungen und Mädchen, die aus irgendeinem Grund Ängste haben oder sich ausgegrenzt fühlen. Und solche, die einfach Probleme haben, ihre (Haus-)Aufgaben zu schaffen. Mit solchen und ähnlichen Sorgen schlagen sich auch im Odenwaldkreis zahlreiche Familien herum. Gleichzeitig ist vielen Menschen - auch auf dem Land - der Kompass verloren gegangen, was (ihre) Kinder wirklich brauchen. An der Grundschule Beerfurth würden Leitung und Kollegium hier gern mit einem besonderen Projekt gegensteuern - mit dem Angebot einer Familienklasse.
Hinter diesem Begriff verbirgt sich ein Konzept, das Kinder, Eltern, Lehrkräfte und einen speziell ausgebildeten Trainer einmal pro Woche für einen Schultag zusammenbringt. Um gemeinsam, möglichst konkret und praktisch sowie in gegenseitiger Wertschätzung (und nicht von oben herab) nach Lösungswegen zu suchen, damit es künftig besser klappt in der Schule - und oft auch zuhause.
Konkret geht es etwa darum, dass die Kinder Strukturen und Alltag in der Schule leichter bewältigen können, dass sie Durchhalten lernen. Dass sie lernen, mit Fehlern, Versagen, Frustration und Selbstzweifeln angemessen umzugehen. Dass sie und ihre Eltern hilfreiche Strategien zum Umgang mit Konflikten entdecken und für sich anwenden können. Und: "Familienklassen können ein Lernort sein für starke Beziehungen und ein gelingendes Miteinander, für Zuversicht und Lebensmut als Voraussetzung für gelingende Lernprozesse." So steht es in einem Faltblatt der Jim-Knopf-Schule in Wölfersheim (Wetteraukreis), wo es schon länger eine Familienklasse gibt. Mit dem vom hessischen Kultusministerium und dem Wetteraukreis geförderten Projekt mache man gute Erfahrungen, heißt es auf Anfrage.
DAS KONZEPT
Mehr als 30 Familienklassen gibt es derzeit in Hessen, so auch an Grundschulen in Fürth und Bürstadt (Kreis Bergstraße). Die Kurse sind meist so organisiert, dass man sich über einen Zeitraum von drei bis sechs Monaten insgesamt zehn bis 15 Mal für jeweils einen ganzen Schultag von morgens bis mittags trifft. Inhalte und Ziele werden zu Beginn mit den Kindern und Eltern abgestimmt. Die Teilnahme ist freiwillig, Kosten entstehen den Eltern nicht. Bedingung ist, dass zumindest eine erziehungsberechtigte Person an den Treffen teilnimmt. Dies können auch Oma oder Opa sein, wenn das betreffende Kind oft bei ihnen ist. Die Schulen stellen sicher, dass die Kinder oder Jugendlichen keine wichtigen Unterrichtsinhalte versäumen. (big)
So etwas würde sicher auch mehreren ihrer Schüler weiterhelfen, dachte sich die Leiterin der Beerfurther Grundschule, wo derzeit mit Spendengeld aus "ECHO hilft" ein anderes Projekt verwirklicht wird: der Bau einer Jurte, die Kindern eine Auszeit vom Alltagsstress ermöglichen soll.
"Fast wie ein Geschenk"
"Ich weiß schon lang von Kindern und Eltern, denen ich gern mehr Hilfe anbieten würde", sagt die 61-Jährige im Gespräch mit dem ECHO. Deshalb hat es sich für sie "fast wie ein Geschenk" angefühlt, als Irina Hülsermann (37) mit der Idee Familienklasse an sie herangetreten sei. Die Diplom-Pädagogin aus Michelstadt hat 2019/20 die Fortbildung zur Multifamilientrainerin (MFT) absolviert. So heißen die Fachkräfte für Familienklassen. Nachdem es in den vergangenen Wochen erste Beratungen gab sowie einen Informationsabend, zu dem auch interessierte Familien eingeladen waren und bei dem ein Praktiker der Wölfersheimer Jim-Knopf-Schule sprach, sind sich Leitung und Kollegium in Beerfurth einig: "Das könnte auch hier gut funktionieren."
Ob es das Angebot dort geben wird - Rümenapf hofft auf einen Start zum Schuljahr 2022/23, ist noch nicht ausgemacht. Zwar sind die zuständigen Stellen, vom Kreisjugendamt über den Odenwaldkreis als Schulträger bis hin zum Kultusministerium, derzeit in regem Austausch. Doch müssen noch wichtige Fragen wie etwa die zur Finanzierung geprüft werden. "Und eine Familienklasse in Beerfurth wäre dann auch offen für Familien aus dem gesamten Gersprenztal", so Susann Hertz, Leiterin des Staatlichen Schulamts in Heppenheim.
Antje Rümenapf, die für ihr Engagement bei Kindern und Eltern geschätzt ist, will auf jeden Fall am Ball bleiben: "Handlungsbedarf besteht allemal." Wie nicht allein sie, sondern viele Fachleute immer wieder feststellen, hat die andauernde Corona-Pandemie noch deutlicher gemacht, woran es in unserer Gesellschaft fehlt. So etwa an Bildungschancen auch für Kinder, die es aus den verschiedensten Gründen nicht leicht haben.
Selbsterfahrung und Selbstwirksamkeit
Zwar ist es Hauptziel der Familienklassen, dass die Jungen und Mädchen besser in der Schule klar- und vorankommen. Konkrete Ziele können sein: Dass sie es schaffen, konzentriert zuzuhören; dass sie "immer ihre Sachen dabei" haben; dass sie sich melden. Doch geht es bei den Gesprächen, Übungen und Aufgaben in den Familienklassen-Runden auch ganz allgemein um Zuhören, voneinander Lernen, und - wichtig: um Selbstverantwortung und das Erfahren von Selbstwirksamkeit ("Ich kann was bewirken!").
Wie gehen wir miteinander um (in Schule und Familie)? Was könnte ich selbst tun, damit dies oder das besser wird? An solchen Fragen zum Beispiel arbeiten die Kinder und Eltern dann. Und weil klar ist, dass es für die angestrebte Veränderung auf beiden Seiten Mitwirken braucht, heißen die Aufgaben und Übungen dann vielleicht: "Ich melde mich heute zwei Mal im Unterricht" (für eher schüchterne Schüler) oder (für Eltern) "Heute lobe ich mein Kind mindestens drei Mal". Es wird mit Belohnungen für geschaffte Aufgaben gearbeitet - und mit "Werkzeugen" wie der "Kapitänskrawatte" oder der "Fernbedienung". Was für sich allein schon Aha-Effekte bringt.
Bei all dem treten weder die MFT-Kraft noch die beteiligte Lehrkraft als "Besserwisser" auf, sondern agieren auf Augenhöhe mit Schülern und Eltern. "Unser Job ist es, erst mal zu beobachten, Kind und Elternteil zum Nachdenken anzuregen und dann Anstöße zu geben, wie man gemeinsam Lösungen finden kann", erklärt Irina Hülsermann. Die Mutter zwei noch kleiner Kinder ist von dieser Art Teamarbeit zum Wohl aller Beteiligten überzeugt.
Dass Eltern vielleicht erst mal Berührungsängste oder Scham haben, offen über Probleme zu reden, ist verständlich. Aber: Familienklassen haben nicht mehr als fünf bis acht Schüler, und Kinder mit Unterstützungsbedarf gibt es in allen Gesellschaftsschichten. "Da sieht man schnell: Ich bin nicht allein mit meinen Problemen, werde deswegen auch nicht verurteilt", erklärt die MFT-Kraft. Dies zu erkennen, wirke auch entlastend und unterstützend - im Sinne von: "Dann werden auch wir das schaffen."