Ein Leben mit Demenz: Perfekt muss nichts mehr sein
Seit elf Jahren meistert ein Ehepaar in Weiten-Gesäß das Leben mit der schweren Krankheit. Seine Diagnose hat Ludwig Kaufmann mit 57 Jahren erhalten. Um die Zukunft ist beiden...
WEITEN-GESÄSS. Wenn er gemeinsam mit dem guten alten Freund auf dessen Traktor in den Wald fährt und dort beim Aufladen der Holzscheite hilft, dann geht es ihm gut. „Dann bin ich völlig frei, das ist für mich wie Erholung“, sagt Ludwig Kaufmann (68). Wertvolle Zeit sind dem Weiten-Gesäßer auch die Stunden und Tage, die er mit Enkel Yannis (11) verbringt – obwohl er dann öfter spürt, dass ihn der junge Wirbelwind ganz schön fordert. Auch dass er handwerklich viele Fertigkeiten nicht mehr so richtig im Kopf abrufen kann, eine Dreisatz-Rechnung nicht mehr schafft, schmerzt den gelernten Zimmermann und Maschinenbau-Konstrukteur. „Mein Mann war stets sehr genau, auch jetzt will er noch möglichst perfekt sein“, sagt Brigitte Kaufmann, ebenfalls 68.
Doch die Begriffe „perfekt“ und „schnell“ hat das Paar, das so liebevoll miteinander umgeht, aus seinem Wortschatz gestrichen. Sie passen nicht mehr in ihre Welt – denn Ludwig Kaufmann leidet an Alzheimer-Demenz. Die Diagnose erhielt der gebürtige Mossautaler vor elf Jahren, „mitten im Berufsleben“, als er noch 57 Jahre jung war. Erste Anzeichen waren Konzentrationsschwächen. Beim Telefonieren etwa hatte er festgestellt, dass er am Ende eines Gesprächs dessen Anfang nicht mehr wusste.
Einziger Trost nach der Diagnose war erst mal: „Diese Form der Demenz schreitet nur langsam voran, also haben wir etwas Glück“, so die Ehefrau. „Damals wurden alle unsere Pläne über den Haufen geworfen“, erinnert sie sich am Esstisch im Einfamilienwohnhaus am Waldrand von Weiten-Gesäß. Heute sagt Brigitte Kaufmann: „Durch seine Demenz haben wir eine viel positivere Einstellung zum Leben bekommen.“
Weil groß Planen keinen Sinn mehr hat, „schauen wir viel mehr auf die schönen kleinen Dinge im Leben“, so die 68-Jährige. Heißt: den Mond am Abendhimmel, die Vögel im Garten, den Wald. Auch kleine Reisen gehen noch, doch länger als eine Woche von Zuhause weg sein mag Ludwig Kaufmann nicht. „Da würde er sich fremd fühlen“, weiß die Gattin. Dankbar sein für das, was noch geht und was man hat – das hilft den beiden sehr. „Auch wenn es öfter mal traurig ist, mal gar nichts klappt: Bei uns wird gern und viel gelacht“, erklärt die gelernte Hotelfachfrau gleich zu Gesprächsbeginn.
Kürzlich wurde Goldene Hochzeit gefeiert. „Ohne großen Rummel, aber schön“, erzählt das Paar, das bereits im zarten Alter von 14 Jahren zusammenkam und seitdem zwei Kinder sowie einen Enkel auf der Welt begrüßte. Klar, dass auch Kaufmanns in all dieser Zeit noch weitere Schicksalsschläge meistern mussten, darunter eine Rücken- und eine Krebs-OP (er) sowie die Pflege der Mutter (sie). Ein „Warum wir?“ und großes Klagen aber seien nicht ihre Art, betonen die Zwei. Wer alles negativ sehe, sich selbst nur leidtue, der tue sich nichts Gutes – die beiden sind überzeugt, dass auch die eigene Gedankenwelt großen Einfluss darauf hat, wie man durchs Leben kommt.
„Meinem Mann und uns zusammen hat es ganz stark geholfen, dass wir die Krankheit Demenz von Anfang an nicht verheimlicht, sondern angenommen und nicht damit gehadert haben.“ Also spricht der 68-Jährige bei Begegnungen oder Telefonaten ganz offen an, dass er an Demenz leidet – und bittet den Anrufer, später noch mal anzuklingeln, „wenn meine Frau wieder da ist“. Sein Wunsch: „Die Leute sollen mich ganz normal behandeln. Und falls ich gerade nicht klarkomm’, sag ich das.“
Sich nicht zurechtfinden, das sind dann Situationen wie beim Essen im Restaurant, wenn die Auswahl auf dem Tisch den Odenwälder überfordert. „Deshalb stelle ich ihm beim Mittagessen zuhause stets den bereits vollständig befüllten Teller hin“, erklärt Brigitte Kaufmann. Längere Besuche, zu viele gleichzeitig sprechende Menschen – auch dies strengt ihren Mann stark an. Und wie viele andere Angehörige demenzkranker Menschen weiß sie: „Als pflegender Angehöriger brauchst du vor allem Geduld. Diskutieren und Korrigieren hilft nicht, das kostet beide nur unnötig Kraft. Besser, man geht mal aus dem Raum und holt Luft.“
Beim Nicht-unterkriegen-Lassen hilft dem Paar ein kleiner Kreis guter Freunde. Auch die beiden Söhne und die Patentochter stehen hinter ihnen und ihrer Art, mit der Krankheit zu leben. „Man sollte sich aber auch von Profis helfen lassen“, finden beide. So möchte Kaufmann die wöchentlichen Ergotherapie-Behandlungen nicht missen. „Da werde ich stets da abgeholt, wo ich gerade bin.“ Sie ergänzt: „Das hilft ihm sehr, seinen Zustand zu stabilisieren.“
Überhaupt habe ihrem Mann sicher auch die früh gestartete und richtige Behandlung durch die Ärzte geholfen, glaubt die Weiten-Gesäßerin. Ihr selbst sind die monatlichen Treffen der Angehörigen-Selbsthilfegruppe beim Diakonischen Werk in Michelstadt eine große Stütze.
„Der Austausch dort gibt mir viel und macht mich dankbar“, sagt die 68-Jährige, die inzwischen von einigen Menschen weiß, die mit Mitte 50 an einer der verschiedenen Formen von Demenz erkrankt sind. Halt gibt ihr zudem der Glaube an Gott – ein frömmelnder, weltferner Mensch ist die zweifache Mutter indes nicht. „Das eigene Leben ist auch noch da, man muss auch an sich selbst denken“, betont sie.
Und die Zukunft, ist den beiden bang um das, was noch geschehen kann? „Es wird schlechter, in kleinen Schritten zwar, aber es ist jedesmal ein Schock“, sagt Brigitte Kaufmann. Seit mehreren Wochen muss sie ihm morgens vorm Anziehen die Kleidungsstücke hinlegen, in der richtigen Reihenfolge. Auch ob jetzt erst mal Duschen oder schon die Gesichtsrasur angesagt ist, muss sie ihm unmissverständlich sagen, damit er nicht durcheinander kommt. Er hat die Post im Kühlschrank abgelegt und meint zu ihr: „Da warst du aber verwirrt!“ Es könnte schlimmer sein, weiß die Odenwälderin.
„Du musst dir angewöhnen, auch mal allein ins Theater oder Konzert zu gehen“, hat er ihr vor elf Jahren gesagt. So recht mochte Brigitte Kaufmann das noch nicht versuchen. Auch jetzt lässt sie ihren Ludwig nicht gern lang allein, schmerzt sie, wenn er traurig ist. „Er ist noch immer mein Mann, für ihn bin ich da.“