Landgericht Darmstadt setzt Verhandlung gegen früheren Leiter eines Odenwälder Orchesters fort.
ERBACH/DARMSTADT - Bücher mit marmorieren Umschlägen hält der Vorsitzende Richter Marc Euler in den Händen. Es sind zwei der rund 40 Tagebücher des Erbachers, der seit vergangener Woche wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern vor dem Darmstädter Landgericht steht.
Laut Anklage soll der 60-Jährige zwischen Ende 2005 und März 2009 einen heute 26 Jahre alten Studenten sexuell missbraucht haben. Der Beschuldigte war Leiter eines Odenwälder Orchesters. Er soll sexuelle Handlungen an sich oder am Geschädigten, der damals einer der jugendlichen Musiker war, vorgenommen und ihn dazu gebracht haben, dass er Handlungen auch an ihm vornimmt.
Der Vorsitzende Richter las einige der handschriftlichen Tagebucheinträge des Angeklagten vor wie „gleich die Hosen ausgezogen“ oder „Tun unter einer Decke“. „Er geniert sich fast nicht mehr“, so ein Eintrag über das Verhalten des damals 13 Jahre alten Geschädigten. Der Orchesterleiter hatte auch eingetragen, dass er es einem anderen Jungen „besorgt“ habe. Dieser, inzwischen erwachsen, war als Zeuge geladen, hatte sich aber am Montag krank gemeldet.
Heißen Kakao, Lebkuchen und Wurstsalat hat es laut Tagebuch am 26. November 2006 gegeben. Beim Angeklagten waren an dem Abend der Geschädigte und ein heute 25-Jähriger, der später vernommen wurde. „Er verstand es weiter, mich anzumachen“, schrieb der Angeklagte über den 26-Jährigen, der ihn 2018 angezeigt hatte. Unter dem 9. Dezember 2006 ist vermerkt, der Beschuldigte und der Geschädigte nutzten hinten in einem Bus sitzend die „Gelegenheit rumzumachen“.
Für den 23. Mai 2007 notierte der Angeklagte „sehr handfestes Kuscheln“. Und Ende Mai 2007 stellte er – damals mehr als drei Mal so alt wie der Geschädigte – fest: „Meine Güte, ich habe ein Verhältnis mit einem bildhübschen vierzehnjährigen Jungen.“
Im Vorwort zum 29. Band seiner Tagebücher schrieb er: „Ich hoffe, dass nichts rauskommt.“ Und es kam nichts raus, obwohl Aussagen am Montag zeigten, dass damals einiges aufgefallen war. Ein 31 Jahre alter Zeuge, ehedem Musiker im Orchester, berichtete von sexualisiertem Verhalten des Geschädigten, der habe dem Angeklagten öfters, auch vor anderen, in den Schritt gefasst.
Ein 37 Jahre alter Zeuge tat sich mit seiner Aussage schwer: Man habe vermutet, dass die beiden ein intimes Verhältnis haben. „Warum?“, hakte Richter Euler nach. „Weil es von beiden Seiten sexuelle Provokationen gab.“ Der Geschädigte habe den Angeklagten öfters wegen seiner Homosexualität aufgezogen. Der habe ihm damals gesagt, dass er drei Jungen interessant finde. „Warum interessant?“, hakte der Richter nach. Nach acht Sekunden Pause: „sexuell anziehend“.
Ein Student (27), damals Gastmusiker, hatte bei der Polizei über eine Party beim Beschuldigten zu Protokoll gegeben: „Ich würde sagen, dass der Angeklagte es bei jedem vom uns probiert hat.“ Vor Gericht sagte er aus, man habe nach einer Fahrt von einem Konzert überlegt, ob man den Erwachsenen was sagen soll, es dann aber nicht getan.
„Das war spannend und interessant, wir waren pubertierende und präpubertierende Jungs“, sagte ein ehemaliges Orchestermitglied. Es klingt wie eine Erklärung, warum die Jungs, überfordert von der Situation, in die sie der Angeklagte gebracht hatte, ihren Eltern nichts erzählten. Der 25 Jahre alte Zeuge schilderte auch exhibitionistisches Verhalten des Beschuldigten auf einer Rückfahrt von einem Ausflug. Warum habe der das gemacht, will der Richter wissen. „Ich glaube, dass wir versucht haben, ihn anzustiften“, vermutete der Zeuge.