„Echo hilft!“: Der Schriftsteller Helmut Ortner stellt in Bad König sein Buch „Volk im Wahn“ vor.
BAD KÖNIG. „Was geht da vor, wenn sich Ewig-Gestrige und Verblendet-Heutige – beide frei von jeder historischen Bildung – als Demokratieretter und Widerstandskämpfer aufspielen? Historische Demenz, Ignoranz oder böse Absicht? Wohl eine trübe Melange aus allem“, schreibt Helmut Ortner in seinem neuen Buch „Volk im Wahn“, das der politische Schriftsteller am Samstag im Zuge der Veranstaltung „Echo hilft!“ und auf Einladung der Stadt und der Literaturhandlung Paperback in der Rentmeisterei vorgestellt hat. Im Prolog packt er mit dieser Analyse sein schärfstes Schwert gegen Gauland, Höcke und Konsorten aus, die sich mit Sophie Scholl gemein machen oder die Nazi-Diktatur als Vogelschiss der Geschichte bezeichnen. Hier werde die Wirklichkeit bizarr wahrgenommen.
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Dann greift er weiter und fragt, warum Verurteilungen ehemaliger Nazi-Verbrecher – wenn überhaupt – erst im Greisenalter der Täter vorgenommen werden. Ortner konstatiert: „Im Justizapparat saßen anfangs dieselben Leute wie einst in der NS-Zeit.“ Er überlegt, ob diese viel zu späten Anklagen und Prozesse tatsächlich mehr einer moralischen Symbolik als juristischer Rechtsstaatlichkeit geschuldet seien, zeigt dafür faktische Beispiele auf und diagnostiziert: „Wenige Jahre nach Kriegsende war aus einem Volk von Jublern und Mitläufern ein Volk von Reinwäschern und Reingewaschenen geworden.“
In den folgenden 13 Kapiteln geht es um Täter, Komplizen und Zuschauer, um Fanatiker, Mitläufer, Weggucker, Denunzianten, Karrieristen und Opportunisten. „Kurzum: um Hitlers Deutsche. Es geht um Schuld und Sühne, um Versagen und Feigheit.“ Hierfür sprach er bei den intensiven Recherchen mit vielen Zeitzeugen. „Im Hinblick auf die neue Leichtfertigkeit sind die nachfolgenden Erkundungen für die Gegenwart gedacht: Gegen das Vergessen! Denn nicht das Vergessen, sondern die Erinnerung macht uns frei“, schließt Ortner seine Einleitung. In seinen historischen Betrachtungen greift der Autor auf bereits von ihm in anderen Veröffentlichungen publiziertes Material zurück. Anhand der Person des Roland Freisler, dem Präsidenten des Volksgerichtshofs, legt er dar, wie lahm und verantwortungslos die spätere bundesdeutsche Justiz in der Adenauer-Zeit gehandelt hat: „Keiner der 106 Berufsrichter und 179 Staatsanwälte des Volksgerichtshofs ist je verurteilt worden, ebenso wenig irgendeiner der Tausende von Sonder- oder Kriegsrichtern. Sie alle konnten nach dem Krieg mit Verständnis bei ihren Richterkollegen rechnen.“ Fast 80 Prozent der NS-Juristen seien übergangslos in den Justizdienst der neuen Republik übernommen worden.
Vom Volksgerichtshof seien während der Präsidentschaft Freislers durchschnittlich zehn Todesurteile pro Tag verkündet worden. „Es blieb die Ausnahme, dass einer der Volksgerichtshofjuristen nach dem Krieg nicht in den Staatsdienst übernommen wurde. Nicht Recht zu sprechen, sondern den Gegner zu vernichten, das war die Aufgabe des Volksgerichtshofs.“ Die Herrschaft des Terrors und des Grauens integriere beide Seiten: die Vorderseite aggressiver Macht und die Rückseite schweigsamer Komplizenschaft.
Mit dem SS-Gruppenführer und späterem Generalleutnant der Waffen-SS, Heinz Reinefarth, der als „Henker von Warschau“ bekannt war, habe es eine Nazi-Größe gar zum Abgeordneten im Kieler Landtag geschafft. Ortner beleuchtet Johann Reichhardt, einen von vier Scharfrichtern des Systems, die das Fallbeil der Guillotine geschäftsmäßig bedienten. Er selbst hat 3.126 Todesurteile vollstreckt. Wes Brot ich ess, des Lied ich sing? Nach 1945 richtet er für die Amerikaner 165 Nazi-Größen mittels Erhängen hin.
Kritisch hinterfragt der Verfasser die fast unglaubliche Karriere des FDP-Abgeordneten und Marburger Jura-Professors Erich Schwinge, der NS-Kriegsrichter gewesen war und unzählige Todesurteile unterschrieben hat. Auch SS-Obersturmführer Arnold Strippel, der in einer Schule am Bullenhuser Damm in Hamburg 20 jüdische Kinder ermorden ließ, blieb von der Adenauer-Justiz weitgehend verschont und lebte als unbescholtener Rentner in Frankfurt bis zu seinem Tode. Ortners Augenmerk gilt ebenso dem Marinerichter und späteren Ministerpräsidenten Hans Filbinger, der auch nach seinem Rücktritt kein eindeutiges Schuldgefühl äußerte.
So wird der Leser mit präzise Nachweisbarem konfrontiert, das mahnend erinnert. Ortner: „Wer sehen wollte, konnte es sehen, es erleben, davon hören.“ Die angeführten Kapitel sprechen eine deutliche Sprache. Trotzdem würde man sich eine etwas umfassendere Herausarbeitung und Verzahnung mit der aktuellen Situation wünschen, wo sich der rechte Mob aus Kalkül unter Umweltschützer, Corona-Kritiker und Demonstranten gegen Waffenlieferungen an die Ukraine mischt.
Diesen Spagat grätschte Ortner im Anschluss der Lesung mit seinem Essay, in dem er schreibt, dass viele der so aufgeregt Demonstrierenden das Recht auf die eigene Meinung mit dem Recht auf eigene Fakten verwechselten und die radikale Reduktion von Demokratie deren Feinde locke. „Demokratie ist nicht etwas, auf das wir Anspruch haben, sondern etwas, das uns in Anspruch nimmt. Sie muss ständig empathisch gepflegt und stets neu geübt werden. Nur dann sind wir demokratiefähig.“ Jene, die hier das Ende einer Diktatur forderten, seien Autisten, die Hasstiraden als freie Meinungsäußerungen maskieren.
„Volk im Wahn. Hitlers Deutsche oder die Gegenwart der Vergangenheit. Dreizehn Erkundungen“ von Helmut Ortner ist mit 290 Seiten bei Edition Faust mit der ISBN 978-3-949774-04-1 als Taschenbuch erschienen und kann für 22 Euro im Buchhandel bezogen werden.