
Nach den Festnahmen von Terrorverdächtigen sowie den Umsturzplänen aus der Reichsbürger-Szene beginnt die Aufarbeitung. Auch zwei Objekte im Kreis sind durchsucht worden.
WETZLAR/DILLENBURG/KARLSRUHE. Eine terroristische Vereinigung aus der Reichsbürger-Szene soll einen Umsturz mit Waffengewalt in Deutschland geplant haben. Unter den 25 festgenommenen mutmaßlichen Mitgliedern und Unterstützern ist auch eine Person aus dem Lahn-Dill-Kreis. Zudem hatte die Generalbundesanwaltschaft am Mittwoch zwei Objekte im Kreisgebiet durchsuchen lassen. Was ist über die Reichsbürger-Szene im Lahn-Dill-Kreis bekannt?
Vor fünf Jahren gab es schon mal eine Razzia im Lahn-Dill-Kreis, ein Spezialeinsatzkommando (SEK) der Polizei hatte vier Personen festgenommen, mindestens einer wurde den Reichsbürgern zugeordnet. Die Staatsschutzabteilung der Staatsanwaltschaft Frankfurt und eine Arbeitsgruppe der Kriminalinspektion Lahn-Dill hatten gegen die vier Männer wegen Verstößen gegen das Waffen- und Kriegswaffenkontrollgesetz sowie Bildung einer kriminellen Vereinigung ermittelt und deren Wohnungen in der Nähe von Wetzlar, Dillenburg und im Dietzhölztal durchsuchen lassen.
Drogen und Waffen sind bei der Razzia sichergestellt worden
Die Beamten hatten Drogen und Waffen sichergestellt. Alle vier Männer hat laut Ermittlern rechtsextremes Gedankengut vereint. Sie standen im Verdacht, eine rechtsnationale Gruppe mit rund hundert Anhängern gegründet zu haben. Es ging offenbar um einen regionalen Ableger der rechtsextremen Hooligan-Gruppe „Berserker“. Das Gruppengefüge habe sich durch das Tragen uniformähnlicher Kleidung sowie einer hierarchischen Struktur gezeigt.
Das hessische Landesamt für Verfassungsschutz definiert „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ so: Es seien Personen beziehungsweise Gruppen, die „das Grundgesetz, die Bundesrepublik Deutschland und deren Rechtssystem, die Staatsorgane und die demokratisch gewählten Repräsentanten nicht anerkennen und ihnen die Legitimation absprechen“. Reichsbürger propagierten das Fortbestehen eines historischen deutschen Reichs, Selbstverwalter erfänden Fantasiestaaten und beanspruchen für sich ein von der Bundesrepublik Deutschland unabhängiges Territorium.
Generalbundesanwaltschaft spricht von tiefer Abneigung gegen die staatlichen Institutionen
Die Generalbundesanwaltschaft in Karlsruhe hatte zu den am Mittwoch festgenommenen mutmaßlichen Terroristen erklärt: „Die Beschuldigten verbindet eine tiefe Ablehnung der staatlichen Institutionen und der freiheitlich demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland, die im Laufe der Zeit bei ihnen den Entschluss hat wachsen lassen, sich an ihrer gewaltsamen Beseitigung zu beteiligen und hierfür in konkrete Vorbereitungshandlungen einzutreten.“
Sie seien einem Konglomerat aus Verschwörungsmythen der Reichsbürger- sowie QAnon-Ideologie gefolgt. Sie seien der festen Überzeugung, dass Deutschland derzeit von Angehörigen eines sogenannten „Deep State“ regiert werde. Hintergrund: QAnon ist die Verschwörungserzählung von einem „Deep State“ („tiefer Staat“), von angeblich, geheimen Mächten, die als „Elite“ im Verborgenen herrschen und einem angeblichen internationalen Kinderhändlerring.
Verfassungsschutz rechnet mit bundesweit 21.000 Reichsbürgern
Der Verfassungsschutz rechnet der Reichsbürger-Szene bundesweit rund 21.000 Anhänger zu, in Hessen rund 1000 Personen. Im Verfassungsschutzbericht des Landesamtes für das vergangene Jahr heißt es: Reichsbürger seien in Hessen in allen Landkreisen feststellbar. Details zum Lahn-Dill-Kreis sind in dem Bericht nicht genannt. Vermerkt ist jedoch ein Ereignis im benachbarten Landkreis Gießen: Dort habe ein Angehöriger der Szene im September 2021 Polizisten, die seine Wohnung durchsuchen wollten, mit einer Armbrust bedroht und beschossen; die Beamten seien unverletzt geblieben.
Dennoch tauchten in den vergangenen Monaten Reichsbürger vor allem auch im Lahn-Dill-Kreis auf. Sie suchten Anschluss bei den Corona-Protestierern, agitierten dort – größtenteils unwidersprochen – in den Telegram-Gruppen.
Unter den Hunderten Mitgliedern der Telegram-Kanäle „Herborn steht auf“, „Bürgeraustausch Wetzlar“ und „LDK steht auf“ (die für die Corona-Demos in Wetzlar und Herborn mobilisiert hatten) befanden sich neben Gegnern von Corona-Maßnahmen und -Impfungen auch Querdenker, Verschwörungsgläubige, Evangelikale, Esoteriker und eben auch Reichsbürger. Sie einte der Widerstand gegen eine Impfpflicht. Ein großer gemeinsamer Nenner waren zudem ihre Feindbilder: Politiker und Presse.
Desinformation und Verschwörungstheorien als Kern der Ideologie
Auf den Plattformen verbreiteten sie unter anderem Desinformation und Verschwörungsmythen, auch die sogenannte QAnon-Ideologie. Umsturz-Fantasien wurden ebenfalls verbreitet. Zum Beispiel: „Wir müssen noch ein bisschen standhalten, dann werden wir triumphierend zusehen können, wie das Kartenhaus der Plandemie zusammenbricht und die Ratten aus den Löchern gejagt werden.“ Darunter gab’s Zustimmung von Mitgliedern.
In den Gruppen wurde die Politik auch als „Tyrannei“ bezeichnet. Ein Teilnehmer erklärte seine „kurzfristigen Visionen“: „Sofort weg mit den Polit-Schmarotzern und den Parteien. Man nennt das, das Übel an der Wurzel packen. Wenn man das richtig macht, wächst danach kein Unkraut mehr.“
Im hessischen Landtag hatte die Linken-Fraktion kürzlich zum Thema Waffenbesitz von Extremisten gefragt. Aus der Antwort des Innenministers geht hervor, dass seit 2020 in Hessen insgesamt 104 Extremisten waffenrechtliche Erlaubnisse entzogen wurden, davon elf im Lahn-Dill-Kreis (nur im Main-Kinzig-Kreis waren es mehr: 15). Hessenweit haben demnach 57 Rechtsextremisten und 27 Reichsbürger, (darüber hinaus zehn Islamisten und drei Linksextremisten) ihre Waffenscheine beziehungsweise Waffenbesitzkarte abgeben müssen. Im Lahn-Dill-Kreis waren es acht Rechtsextremisten und drei Reichsbürger.
Bereits vor Jahren wurde auf Gefahr durch Reichsbürger hingewiesen
In einem Vortrag in Haiger hatte ein Rechtspfleger aus Offenbach/Main bereits vor vier Jahren auf die Gefahren durch Reichsbürger aufmerksam gemacht. Anlass für diesen Vortrag war die vorangegangene Razzia bei den vier Männern im Kreisgebiet sowie die Beteiligung von Reichsbürgern an Aufmärschen damals in Haiger. Er berichtete, in seinem beruflichen Alltag habe er immer wieder mit Reichsbürgern zu tun. Für viele Behördenmitarbeiter seien Reichsbürger alles andere als Unbekannte.
„Diese Leute schicken gerne seitenlange Pamphlete raus, wenn sie etwa einen Bescheid wegen Falschparkens bekommen“, sagte der Rechtspfleger. Das Ziel: die Strukturen des Staates lahmlegen. Teilweise führten Anhänger der Szene einen jahrelangen Kleinkrieg mit Behörden.
Im bayerischen Georgsmünd hatte ein Reichsbürger 2016 einen Polizisten erschossen und drei weitere Beamte mit Schüssen verletzt.
Rechtspfleger Gottwald sagte in Haiger: „Wir Beobachter hatten schon seit Jahren vor Reichsbürgern gewarnt. Wir wurden aber nicht ernstgenommen.“