Raunheim: Hauptuntersuchung für die Schrägseilbrücke

Die Bibel des Ingenieurs: Thomas Wanderer prüft nach den „Richtlinien für die Erhaltung von Ingenieurbauten“. Fotos: Jens Etzelsberger

Die erste große Kontrolle nach der Inbetriebnahme steht nun an / Mehr als tausend Prüfpunkte

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RAUNHEIM. Thomas Wanderer lehnt sich weit aus dem Fenster. „Dass so etwas in Deutschland passieren kann, würde ich ausschließen“, sagt er mit Blick auf den Brückeneinsturz in Genua. Wanderer kommt aus der Branche, der diplomierte Bauingenieur inspiziert auch Brücken, unter anderen die Raunheimer Schrägseilbrücke. Dass ihm damit ein ganz besonderes Bauwerk anvertraut ist, ist ihm durchaus klar. „Da muss man schon weiter fahren, um etwas Vergleichbares zu finden“, sagt Wanderer. In Frankfurt etwa spannt sich die Flößerbrücke als Schrägseilkonstruktion über den Main. Auch im Bereich Mannheim/Ludwigshafen fänden sich vergleichbare Bauwerke, die nicht nur Fußgänger, sondern auch Autos tragen.

Die Bibel des Ingenieurs: Thomas Wanderer prüft nach den „Richtlinien für die Erhaltung von Ingenieurbauten“. Fotos: Jens Etzelsberger
Wahrzeichen: Die Schrägseilbrücke prägt die Stadtansicht. Im Oktober steht die erste große Prüfung nach der Inbetriebnahme an.

Nicht jeder Schaden muss sofort behoben werden

In den kommenden Wochen steht für die im Januar 2015 eingeweihte Schrägseilbrücke die erste größere Inspektion nach der Abnahmeprüfung unmittelbar vor Inbetriebnahme an. „H 2“ heißt diese Kontrolle, der Buchstabe steht dabei für den Begriff „Hauptprüfung“. Das erinnert an „Hauptuntersuchung“ bei den Kraftfahrzeugen und ist im Prinzip recht ähnlich. Die „H 2“ steht kurz vor Ablauf der Gewährleistungsfrist an. Schäden, die hier gefunden werden, könnten bei den Baufirmen noch geltend gemacht werden. „Hauptprüfung“ bedeutet auch, dass ganz genau hingeschaut wird. Wie genau, das steht in den „Richtlinien für die Erhaltung von Ingenieurbauten“, ein dicker Ordner, die Bibel der Bauwerkskontrolle.

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Das Mantra der „RI-ERH-ING“, wie die Vorgaben auch abgekürzt werden, lautet: Standsicherheit, Verkehrssicherheit, Dauerhaftigkeit. Das sind die Hauptkriterien, auf die alle möglichen Schäden hin systematisiert sind. Ob Risse, Ausbrüche, Roststellen, verstopfte Rohre, lose Kabel – all das bewertet Thomas Wanderer in einem standardisierten Punkteverfahren auf den Einfluss auf Standsicherheit, Verkehrssicherheit und Dauerhaftigkeit.

Standsicherheit ist gegeben, wenn das Bauwerk weiter ohne Schaden funktioniert. Verkehrssicherheit liegt vor, wenn keine, oder nur kleine Mängel da sind, die im Rahmen der üblichen Bauunterhaltung behoben werden können. Und Dauerhaftigkeit ist gegeben, wenn das Bauwerk ohne Einschränkungen seine Nutzungsdauer erreicht.

Die regelmäßigen Kontrollen sind aber nicht nur wichtig, um Probleme zu erkennen, sondern auch um sie beobachten und bewerten zu können. Nicht jeder Schaden muss sofort behoben werden. Im Gegenteil: In vielen Fällen reicht über eine lange Zeit die regelmäßige Kontrolle, um dann zu einem geeigneten Zeitpunkt zu reparieren. Idealerweise dann, wenn sich die Reparaturkosten und der erzielte Effekt in einem perfekten Verhältnis zueinander befinden.

An der Schrägseilbrücke wird wahrscheinlich noch nicht viel zu bemängeln sein. Doch dass es sich um ein neues Bauwerk handelt, bedeutet nicht, dass Thomas Wanderer nicht genau hinschaut.

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Zwei Wochen wird es mindestens dauern, bis die Brücke durchinspiziert ist und alle mehr als 1000 Prüfpositionen abgearbeitet sind, schätzt Thomas Wanderer. Ein großer Hubsteiger und eine Drohne werden dabei zum Einsatz kommen, um das bis zu 60 Meter hohe Bauwerk zu kontrollieren. Dafür wurde schon bei der Erstellung der Brücke eigens ein Weg unterhalb und parallel zur Fahrbahn betoniert, um dem Kranfahrzeug eine Aufstellfläche zu bieten. So kann kontrolliert werden, ohne dass der Verkehr beeinträchtigt wird.

Wenn dem Ingenieur bei den Prüfungen etwas Außergewöhnliches auffällt, wird das große Besteck ausgepackt. Erscheint etwa eines der Tragseile bei der Sichtprüfung nicht hundertprozentig, kann ein Seilroboter, wie er an Hochschulen und bei Seilherstellern verfügbar ist, zum Einsatz kommen. Ist eine Schweißnaht auffällig, wird mit Ultraschall oder dem Magnetpulververfahren genauer hingeschaut. Dabei wird die fragliche Stelle magnetisiert und mit Eisenpulver bestreut. Materialfehler erzeugen ein Streufeld und richten das Eisenpulver charakteristisch aus.

Aber auch eher profane Dinge wie Geländer, Leitplanken, Beleuchtung und Erdungskabel werden inspiziert. Die gesamte Brücke wird auf Herz und Nieren kontrolliert.

Die nächste große Hauptprüfung steht dann in sechs Jahren an. Genau dazwischen, also nach drei Jahren, ist eine einfache Prüfung vorgesehen. Angesichts solch strenger Überwachung bleibt Wanderer bei seiner Einschätzung. „Dass so etwas wie in Genua hier passiert, würde ich ausschließen.“