Bildung für alle: Volkshochschulen feiern 100-jähriges Bestehen
Die Volkshochschulen in Deutschland feiern 100-jähriges Bestehen. Die Lust, lebenslang Neues zu lernen, ist geblieben. Form und Inhalte haben sich über die Jahrzehnte verändert.
Von Susanne Wildmeister
Lokalredakteurin Groß-Gerau Echo, Ried Echo
Ob Kräuterkunde, Rückengesundheit, Alphabetisierung, Debattierclub oder Videoprojekt – die Kreisvolkshochschule bietet ein vielfältiges Kursprogramm. Archivfotos: Vollformat/Heimann (2), Heiler (2), Volk
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GROß-GERAU - Wer versteht Gammler und Beat-Anhänger? Diese durchaus ernst gemeinte Frage diskutierten Volkshochschulbesucher im Kreis Groß-Gerau in einem gleichnamigen Kurs 1967, während man sich heute beispielsweise im Webinar online mit der Klimarettung befasst oder Videodokumentationen zu gesellschaftlich relevanten Themen erstellt. Die Erwachsenenbildung in den Volkshochschulen feiert 2019 bundesweit hundertjähriges Bestehen. Die Lust und Notwendigkeit, lebenslang Neues zu lernen, ist geblieben, Form und Inhalte haben sich über die Jahrzehnte verändert. Mehr als 30 Jahre prägt Heinrich Krobbach in leitender Funktion die Arbeit der Kreisvolkshochschule Groß-Gerau. Im Gespräch kommt der 65-Jährige zurück auf die Ursprünge der VHS-Arbeit und blickt in die Zukunft.
Die Volksbildung wurde 1919 in der Weimarer Verfassung verankert. „Im Kern ging es damals darum, breiten Bevölkerungsschichten ein besseres Leben durch Bildung zu ermöglichen.“ Das Groß-Gerauer Kreisvolksbildungswerk als Keimzelle der KVHS sei zwar offiziell erst 1952 gegründet worden. Zuvor habe es jedoch zahlreiche örtliche Vorläufer, darunter den bereits 1865 in Königstädten ins Leben gerufenen Leseverein – „als Gegenentwurf der Arbeiterklasse zu den bürgerlichen Salons“ – gegeben. Die Volksbildung habe beigetragen zur kollektiven Emanzipation der Arbeiterklasse. Dies übrigens vorwiegend in Form von Vortrags- und Diskussionsveranstaltungen. „Die klassische Kursform kannte man damals noch nicht.“
Sprach- und Integrationskurse für Geflüchtete als Mammutaufgabe
Eine Mammutaufgabe, der sich die Kreisvolkshochschule heute stellt, ist die Integration Geflüchteter. Größter Schwerpunkt im aktuellen Halbjahresprogramm ist daher die Vermittlung von Deutsch als Zweitsprache mit mehr als 150 Seminaren. Die VHS verstehe sich nach wie vor als Moderator des gesellschaftlichen Diskurses. Doch gegenüber rund 30 Angeboten im Bereich Gesellschaft, Politik und Umwelt haben Yoga, autogenes Training und Rückengymnastik mit Kursen wie „Besser entspannt als ausgebrannt“ zahlenmäßig mit über 100 Angeboten längst die Oberhand gewonnen. Stets sei es darum gegangen, Themen aufzugreifen, „die gesellschaftlich relevant und auf der Höhe der Zeit sind“, betont Krobbach. In einem Universum von Medien und Informationen nehme die reine Faktenvermittlung heute weniger Raum ein. Austausch und Aktion gewännen an Bedeutung. Neue Formate wie interaktive Ausstellungen sowie Kooperationen, beispielsweise in der Umweltbildung, sind entstanden. Oberstes Lernziel sei das „friedliche, demokratische Zusammenleben in gegenseitigem Respekt.“ Dabei wolle man weniger belehrend sein, sondern Menschen zusammenbringen und herausholen aus ihren Online-Filterblasen.
Das hessische Volkshochschulgesetz von 1970 habe die Basis zur Professionalisierung der Erwachsenenbildung gelegt. Damals wurde die Volkshochschularbeit dem Kreis übertragen. Mit Landesfördermitteln entstanden hauptamtliche Stellen, örtliche Strukturen wurden stärker in Groß-Gerau zentralisiert. „Die Gewerkschaften haben damals eine Ausweitung des Bildungssystems gefordert, um bessere Lebensverhältnisse zu schaffen“, sagt Krobbach. Noch immer gehören berufsbezogene Angebote zu den wichtigsten Säulen der klassischen Volkshochschularbeit. In 90 Kursen optimieren Teilnehmer Kenntnisse, die auch beruflich von Nutzen sind. Vieles dreht sich um die EDV. Im Fremdsprachenbereich führen 24 Englisch-Kurse die Beliebtheitsskala an. Auch Schulabschlüsse und Alphabetisierungskurse gehören zum Spektrum des kommunalen Weiterbildungszentrums mit derzeit 50 hauptamtlichen Mitarbeitern und 200 Dozenten.
Meilensteine in der Geschichte der KVHS waren die Gründung des Eigenbetriebs 1997 und der Einzug in den neu errichteten Hauptsitz am Schloss Dornberg 2006. Insgesamt gibt die KVHS laut Krobbach jährlich 4,5 Millionen Euro aus, davon tragen Kreis und Land 1,4 Millionen Euro, Teilnehmergebühren belaufen sich auf rund eine Millionen Euro und mit etwa zwei Millionen Euro finanziere der Bund Integrationskurse. Hinzu kämen projektbezogene Fördergelder der Europäischen Union.
Trotz des vielfältigen Angebots geht die Nachfrage seit Jahren stark zurück. Gegenüber 1988 hat sich die Zahl der Kurse pro Jahr auf 1000 halbiert, die Teilnehmerzahl sank von 20.000 auf 11.000, erklärt Krobbach. Im Vergleich mit anderen Kreisvolkshochschulen liege man, gemessen an der Einwohnerzahl, im Mittelfeld. Der Schwund sei bundesweit zu beobachten und habe viele Gründe. So seien früher Musikschulkurse und zum Teil wöchentliche Vereinstreffs ins Programm integriert gewesen. Heute gebe es beispielsweise im Gesundheitsbereich viele Alternativen in Vereinen oder Studios, vielfältige Fortbildungsangebote anderer Anbieter sowie neue computerbasierte Lernplattformen. Zudem nutzten Kreisbewohner auch VHS-Angebote der umliegenden Städte. Viele Menschen seien durch Beruf und Familie stark eingebunden. „Es ist schwierig, Jüngere zu erreichen.“ Die KVHS-Klientel ist zu 70 Prozent weiblich und zu einem großen Teil im fortgeschrittenen Alter.
Um wieder breitere Bevölkerungsschichten, unter anderem Personen mit Migrationshintergrund sowie bildungsbenachteiligte Menschen, zu erreichen, müsse sich die Volkshochschule in Zukunft stärker öffnen und zum Treffpunkt werden, wo man sich austauscht und inspirieren lässt. Neue Kursangebote entstünden schon heute teilweise auf der Basis individueller Nachfrage. Krobbach liebäugelt mit einem VHS-eigenen Café- und Ausstellungsraum mit Aufenthaltsqualität. Doch der lasse sich an den eher abgelegenen Standorten in Dornberg oder dem neuen Bildungszentrum im Groß-Gerauer Wasserweg kaum umsetzen.