Rettungsgrabungen in Groß-Gerau bringen interessante Funde zutage
Von Susanne Wildmeister
vor 7 Monaten
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Wie sich aus Keramikscherben und Tierknochen-Funden Rückschlüsse ziehen lassen auf das Leben vor beinahe 2000 Jahren, zeigt die jüngste Rettungsgrabung der archäologischen Denkmalpflege im Groß-Gerauer Stadtteil Auf Esch. Die dort nachgewiesene römische Siedlung ist hessenweit die durch Grabungen am besten dokumentierte ihrer Art.
Bezirksarchäologe Thomas Becker präsentiert einen aus gefundenen Keramikscherben zusammengesetzten Teller aus dem 3. Jahrhundert. Fotos: VF/Heimann, LFDH/P. Odvody
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GROSS-GERAU - Archäologische Grabungen im Groß-Gerauer Stadtteil Auf Esch haben erneut eindrucksvolle Zeugnisse vom Leben in der dort nachgewiesenen römischen Zivilsiedlung, eines so genannten Vicus, freigelegt. Bezirksarchäologe Thomas Becker, Leiter der Außenstelle Darmstadt des Landesamtes für Denkmalpflege Hessen, präsentierte nun die Ergebnisse einer Rettungsgrabung im Zuge eines Wohnbauvorhabens in der Straße Am Kastell 3 bis 5 (Infokasten).
Außergewöhnliche Ritzzeichnungen auf einem etwa acht Zentimeter breiten Schiefertafel-Fragment sowie bauliche Überreste eines 15 mal 15 Meter großen Holzgebäudes gehören zu den Funden. Vier Mitarbeiter hatten das 600 Quadratmeter große Gelände vier Wochen lang untersucht und einzelne Bereiche freigelegt - dabei werde ganz klassisch mit Bagger, Spaten und Schaufel gearbeitet, so Becker. Während er "noch keine Idee" hat, was es mit den ungewöhnlichen Ritzungen auf sich hat, die an Kinderzeichnungen erinnern, könnte es sich bei dem Gebäude um einen militärisch genutzten Lagerbau gehandelt haben, der zeitgleich zum benachbarten Kastell im Bereich der Fasanerie in den 70er Jahren des ersten Jahrhunderts entstanden ist. Für diese Vermutung sprechen auch Funde militärischer Ausrüstungsgegenstände.
Pfostenlöcher lassen auf Lagerbau schließen
Zwischen 75 und 120 nach Christus seien etwa 500 Mann auf dem 1,9 Hektar großen Gelände stationiert gewesen, schilderte Becker. Auf das Gebäude weisen in den abgetragenen, tiefer liegenden Erdschichten heute nur noch Löcher im Abstand von 3 Metern hin, in denen einst Holzpfosten als Teil der Fachwerkkonstruktion standen.
Bei Grabungen in der Straße Am Kastell wurde auch ein Schiefertafel-Fragment mit Ritzzeichnungen sicher gestellt. Fotos: VF/Heimann, LFDH/P. Odvody
Im hinteren Bereich eines lang gezogenen Grundstücks eines der Streifenhäuser, die mit der Giebelseite an eine römische Straße angrenzten, wurde außerdem eine Abfallgrube entdeckt. Scherben römischen Tafelgeschirrs, Fragmente von Koch- und Vorratstöpfen aus Keramik, Tierknochen und Fischwirbel geben Einblick in das Leben des ländlich geprägten römischen Dorfs. Zwei Teller und zwei Schüsseln wurden teilweise rekonstruiert. Sie datieren von Anfang des 3. Jahrhunderts und wurden "in relativ großer Produktion" gefertigt in Rheinzabern, wie ein Stempel verrät. Verziert sind die Schüsseln unter anderem mit einem Menschen mit Tierkopf, Bogenschützen und Tierdarstellungen.
REICHARDT-STIFTUNG
Auf dem Grundstück Am Kastell 3-5 plant die Hans Reichardt-Stiftung eine Anlage mit 21 Wohnungen. Das Gebäude soll anschließen an einen im Jahr 2002 bogenförmig errichteten Komplex mit 24 Wohnungen. Im Zuge des Neubaus soll die Tiefgarage auf 51 Stellplätze erweitert werden. Geplanter Baubeginn ist im Frühjahr 2019, Fertigstellung im Sommer 2020. Die Miete soll etwa 10 Euro pro Quadratmeter betragen.
Die Hans Reichardt-Stiftung ist ein kleines Wohnungsunternehmen mit knapp 200 Wohnungen in Mörfelden-Walldorf, Steinbach und Groß-Gerau. Sitz ist in Frankfurt. Stiftungsvorstand sind Uwe Menges, Vorstand der Baugenossenschaft Rüsselsheim und Torsten Regenstein, Geschäftsführer der Rüsselsheimer gewobau, die seit 2007 die Geschäftsbesorgung der Reichardt-Stiftung führt.
Das Stiftungsvermögen besteht aus dem Nachlass des 1972 verstorbenen Kaufmanns Hans Reichardt. Zielsetzung ist eine sichere und sozialverantwortbare Wohnungsversorgung der Bevölkerung. (fri)
Beim Standort Auf Esch handele es sich um den einzigen fast vollständig mit Grabungen erfassten Vicus in Hessen, erläuterte Thomas Becker mit Blick auf die Bedeutung des Projekts. Grundsätzlich versuchen Archäologen "einen Großverlust solch eines Denkmals zu vermeiden". Denn Ziel sei es heute, geschichtliche Zeugnisse als Quelle für die Zukunft im Boden zu bewahren. In 50 oder 100 Jahren seien die Kollegen sicher technisch weiter.
Ein neues Wohngebiet auf dem Areal einer römischen Siedlung auszuweisen, sei ein politischer Beschluss der Kreisstadt in den 1980er Jahren gewesen. Mit einer Genehmigung aus Sicht der Denkmalpflege "würde man sich heute sehr schwer tun", räumte der Bezirksarchäologe ein. Er ist übrigens offen für Anfragen des Stadtmuseums, wenn es darum geht, die aktuellen Funde und die daraus noch zu erarbeitenden wissenschaftlichen Erkenntnisse der Groß-Gerauer Öffentlichkeit zu präsentieren.
Bereits 1998 und 2001 waren bei Grabungen im Umfeld der aktuellen Fundstelle ein Badegebäude und ein staatliches Unterkunftshaus dokumentiert worden. Weitere archäologische Untersuchungen sind laut Becker im Zuge einzelner, noch ausstehender Bauvorhaben Auf Esch geplant.
Dankbar zeigte er sich, dass die jüngste Grabung nicht unter Zeitdruck während einer laufenden Baumaßnahme durchgeführt werden musste. Dafür sorgte nicht zuletzt eine notwendige Bebauungsplanänderung, die das Projekt der Hans Reichardt-Stiftung um ein Jahr verzögerte, wie Vorstand Uwe Menges erläuterte.