Mit 100 Prozent der Stimmen haben die Delegierten des Stadtverbandsparteitags der SPD Gießen Frank-Tilo Becher am Freitagabend zum Kandidaten für die Oberbürgermeisterwahl gekürt.
GIESSEN. 49 anwesende Delegierte, 49 Mal Ja: Mit dem Traumergebnis von 100 Prozent hat die SPD am Freitagabend Frank-Tilo Becher nun auch offiziell zu ihrem Kandidaten für die Oberbürgermeisterwahl am 26. September gekürt. "Lasst uns losziehen", rief der Landtagsabgeordnete und langjährige evangelische Dekan den Parteitag zum Start in den Wahlkampf auf. In seiner Vorstellungsrede hatte Becher zuvor einige politische Ziele im Fall der Wahl skizziert, darunter mehr Bürgerbeteiligung und ein stärker von Kooperationen geprägter Politikstil. Sollte sich der Abgeordnete gegen die Mitbewerber durchsetzen, dann würde er die amtierende Oberbürgermeisterin Dietlind Grabe-Bolz im Dezember ablösen.
"Eine tolle Stadt"
"Ich stehe hier mit großer Entschlossenheit und Leidenschaft", wandte sich der Kandidat bereits zum Auftakt seiner Ansprache kämpferisch an die Delegierten. Selbst sei er vor 27 Jahren nach Gießen gekommen, um unter anderem als Pfarrer in der Nordstadt zu arbeiten. Der Gang durch den Seltersweg sei in diesem ersten Jahr 1994 nicht so schön gewesen. "Aber wenn man bleibt, dann hat man die Gelegenheit des zweiten und dritten Blicks und sieht, wie sich die Stadt entwickelt", betonte Becher. In den letzten 20 Jahren habe Gießen erhebliche Schritte nach vorne gemacht und habe alles, was eine Stadt braucht, darunter Geschäfte, Gastronomie, Verbindungen in die ganze Welt. "Gießen ist eine tolle Stadt. Deswegen möchte ich hier OB werden", bilanzierte der Sozialdemokrat seinen ersten Grund. Ein weiterer sei die Zeit der großen Umbrüche, in der man sich derzeit befinde und die Stadtgesellschaft und Politik fordere. Wesentliche Aufgabe sei der Klimawandel. Mittlerweile habe die Stadt "die Zeichen der Zeit erkannt, aber es liegt noch viel Arbeit vor uns". Der Verkehrsversuch sei ein Beispiel für unterschiedliche Zielkonflikte im Zusammenhang mit dem Klimaschutz. "Wie reagieren wir schnell genug auf den Wandel und bleiben gleichzeitig als Handelsort von außen gut erreichbar?", erläuterte der ehemalige Dekan einen dieser Konflikte. Als weitere politische Kernfelder benannte er bezahlbaren Wohnraum und die Digitalisierung.
"Wir brauchen einen deutlich durch Kooperation geprägten Politikstil", machte der Landtagsabgeordnete deutlich. Notwendig seien integrierte und integrierende Konzepte. Dies gelte innerhalb des Rathauses, unter anderem durch Zusammenarbeit über die Grenzen von Dezernaten und Parteien. Aber auch außerhalb des Rathauses, etwa durch die Arbeit mit Organisationen wie den BIDs. "Eine weitere wichtige Aufgabe ist in diesem Zusammenhang die Weiterentwicklung der Bürgerbeteiligung", unterstrich Becher. Basis dafür sei die Satzung, die Grabe-Bolz ins Leben gerufen hat. "Ich bin bereit, mir als OB das Leben schwer zu machen", umschrieb der Sozialdemokrat seinen Ansatz, zu einer Sache möglichst die Perspektiven aller Beteiligter zu hören. Insgesamt solle es gerecht, nachhaltig und produktiv zugehen.
Ein weiteres Kernthema des Kandidaten: "Gießen soll eine namhafte Kulturstadt Hessens mit Magnetwirkung werden." Kultur solle auch mehr an öffentlichen Orten stattfinden. Darüber hinaus gelte es, die Stadt als Bildungs- und Wissenschaftsstandort zu entwickeln. Und auch mit dem Thema Gesundheit will sich der SPD-Mann im Fall des Wahlsiegs befassen.
"Ohne Kahlschlag"
"Eine große Aufgabe wird das Thema Geld sein", stieg Becher in sein Fazit ein. Grabe-Bolz habe hier in den vergangenen Jahren vorbildlich gearbeitet und es geschafft, Gießen ohne Kahlschlag aus dem Schutzschirm zu führen. "Das ist schon eine Leistung", resümierte Becher. Der neue Koalitionsvertrag sei eine gute Grundlage. "Das Jahr hat mit der Kommunalwahl nicht gut für uns begonnen", hatte Stadtverbandsvorsitzender Christopher Nübel den Parteitag eröffnet. Man sei in schwierigen Zeiten, was die Wahl des Oberbürgermeisters besonders wichtig mache. "Aber ich bin der Überzeugung, dass der Parteitag der Stadt in diesem Zusammenhang das beste Angebot machen kann", so Nübel. In diesem Jahr würden die Weichen für die Zeit nach Corona gestellt, wandte sich Vorsitzende Nina Heidt-Sommer an die Delegierten. Beim Amt des Oberbürgermeisters liefen viele Stränge der Entwicklung zusammen. Gerade Becher sei dafür besonders geeignet, weil "er sich in der Weststadt genau so wohlfühlt wie beim Gespräch mit Wirtschaftsvertretern", resümierte Heidt-Sommer. Vor der Abstimmung über die Kandidatur sprachen sich zahlreiche Sozialdemokraten für den Landtagsabgeordneten aus, darunter Dietlind Grabe-Bolz, Gerhard Merz und Thomas Euler.