"Der Hass auf uns muss sehr groß gewesen sein": Edith Erbrich berichtet auf Einladung der Arbeitsstelle Holocaustliteratur der und der "Lagergemeinschaft Auschwitz" über ihre...
GIESSEN. "Der Hass auf uns muss sehr groß gewesen sein", sagt Edith Erbrich. Und für einen Moment hält die kleingewachsene, zierliche Frau inne. Das Morden in Auschwitz war nämlich bereits bekannt, das Vernichtungslager von der Roten Armee am 27. Januar 1945 befreit und die letzten rund 7000 völlig abgemagerten Häftlinge gerettet worden. Dennoch trieben die NS-Schergen weiterhin Kinder, Frauen und Männer in den zerbombten Städten des Deutschen Reiches zusammen, um sie zu deportieren. Um sie im Osten wegen ihres jüdischen Glaubens zu töten. "Das ist für mich noch heute unfassbar", betont die 82-Jährige in der überfüllten Alten Kunsthalle. "Wir mussten uns am 14. Februar 1945 an der Großmarkthalle einfinden": der Vater Norbert Bär und seine beiden Töchter - die elfjährige Hella und die vier Jahre jüngere Edith. Von Frankfurt aus wurden die drei mit 613 Personen in Viehwaggons nach Theresienstadt verschleppt. Die Mutter Susanna allerdings wurde gezwungen, in der zerstörten Stadt am Main zurückzubleiben.
"Meine Mutti hat alles mit uns ertragen müssen. Sie war im Gefängnis, weil sie sich nicht scheiden lassen wollte. Sie musste den Judenstern tragen, sie ist verhöhnt worden. Aber als sie freiwillig mit uns gehen wollte, war sie plötzlich wieder eine ,Arierin'", erinnert sie sich. Denn Susanna Bär war Katholikin, ihr Mann Jude und die gemeinsamen Töchter nach der nationalsozialistischen Rassenlehre deshalb "Mischlinge ersten Grades".
Dank den "stillen Helden"
Edith Erbrich hat ihre dramatische Geschichte schon oft erzählt. Seit vielen Jahren engagiert sie sich als Zeitzeugin, besucht Schulklassen und kämpft unermüdlich dafür, "dass so etwas nie wieder passiert". Zum 75. Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau hat die alte Dame bei der Gedenkfeier ihrer Heimatstadt Frankfurt in der Paulskirche gesprochen. Am Mittwochvormittag stellte sie sich in einem Seminar an der Justus-Liebig-Universität (JLU) den Fragen von Studierenden. Am Abend nun berichtet sie auf Einladung der "Lagergemeinschaft Auschwitz - Freundeskreis der Auschwitzer", der Arbeitsstelle Holocaustliteratur der JLU und der Stadt Gießen von den Demütigungen, der Angst, dem Hunger. Dabei ringt sie immer wieder mit den Tränen.
Mit bisweilen brüchiger Stimme beschreibt die 82-Jährige den Kriegsalltag in der Mainmetropole, den Schrecken der Fliegerangriffe, die Zerstörung ihres Wohnhauses durch eine Bombe und das Verschüttetsein im Keller. "Da muss uns wirklich eine höhere Macht geholfen haben, denn mein Vater und einige Männer konnten eine Eisentür von den Trümmern befreien, damit wir überhaupt hinauskamen." Dann aber erreichte die Familie die Aufforderung, sich am Sammelpunkt vor der Großmarkthalle einzufinden, um "zum Arbeitseinsatz" transportiert zu werden. Fünf Tage lang waren die Mädchen gemeinsam mit dem Vater und den anderen Deportierten in den Waggons eingepfercht. "Wir mussten darin schlafen, essen und unsere Notdurft verrichten."
Norbert Bär hatte unterdessen frankierte Postkarten eingeschmuggelt und - mit Nachrichten an seine Frau versehen - durch den löchrigen Holzboden nach draußen geworfen. "Stillen Helfern" sei es zu verdanken, dass tatsächlich alle Schreiben in Frankfurt angekommen sind. "Ich habe die Karten alle noch im Original", versichert Edith Erbrich. Zudem verweist sie schon zu Beginn nachdrücklich darauf, dass sie "alles, was ich hier erzähle, belegen kann" - um Zweifler oder gar Leugner sogleich zum Schweigen zu bringen. Mehrfach würdigt sie jene "stillen Helfer", denen sie nie hätte persönlich danken können und die doch ihr Leben für ihre Familie riskiert hätten. Dazu zählten auch die Mitarbeiter einer Kohlenhandlung, die ihr gemeinsam mit ihrer Schwester das "Organisieren" von Briketts ermöglicht hätten.
In Theresienstadt gehörte zum Schock der Ankunft, dass die Mädchen vom Vater getrennt wurden. "Wir mussten uns nackt ausziehen, und uns wurden die Haare abrasiert." Als sie dann aufgefordert wurde, zum Duschen zu gehen, sei sie ohnmächtig geworden. "Als ich wieder zu mir gekommen bin, habe ich so lange geschrien, bis sie meine Schwester Hella gefunden haben."
Die Lebensumstände in der einstigen Garnisonsstadt rund 60 Kilometer nördlich von Prag waren für die Kinder kaum zu ertragen. Ursprünglich für gerade mal 7000 Bewohner errichtet, waren von den Nationalsozialisten dort bis zu 53000 Menschen gleichzeitig eingesperrt worden. "Wir mussten zu dritt auf einer Pritsche schlafen." Das Schlimmste aber sei gewesen, dass schließlich auch sie und ihre Schwester auseinandergerissen wurden. Hella musste als Zehnjährige zum Arbeitsdienst: Steine klopfen, Unkraut jäten oder die Viehwaggons ausräumen. "Sie war draußen und hat viel mehr gesehen als ich." Aber über ihre Erfahrungen könne ihre Schwester nicht öffentlich reden. "Ich mache das für sie mit, das ist mir sehr wichtig", sagt die 82-Jährige mit freundlich-resolutem Ton. Den Mädchen sei eines Tages mitgeteilt worden, dass sie sich zu einem bestimmten Zeitpunkt zum Arbeitseinsatz aufstellen sollten, weil ein Zug mit Süßigkeiten ankommen würde. "Meine Schwester hat schon überlegt, wo sie in ihrem dünnen Kleidchen Süßigkeiten für mich verstecken könnte." Als die kleinen Zwangsarbeiterinnen den Waggon in froher Erwartung öffneten, hätten indes tote Menschen darin gelegen. "Da wussten sie, warum sie am Vortag eine Grube ausheben mussten."
Die Schilderungen der 82-Jährigen sind nicht vorwurfsvoll, nicht anklagend, beinahe nüchtern stellt sie fest: "Das war keine schöne Kindheit." Oder: "Das war schlimm." Und: "Das wünscht man niemandem." Aber gerade durch diese Direktheit entwickeln die Worte eine ungeheure emotionale Wucht, von der die Zuhörer geradezu in den Bann gezogen werden. In der Nacht vom 7. zum 8. Mai 1945 wurde das Ghetto Theresienstadt von der Roten Armee befreit. "Wir haben später herausgefunden, dass bereits in Frankfurt festgestanden hat, dass wir am 9. Mai vergast werden sollten."
"Wir sind frei"
Doch nun wurden die beiden Töchter von ihrem Vater besucht, der versicherte: "Wir sind frei." Und als sie schließlich gemeinsam Frankfurt erreichten, trafen sie auch Susanna Bär wohlauf an. "Das war - außer meiner Hochzeit - der schönste Moment in meinem Leben, meine Mutti wiederzusehen", erzählt Edith Erbrich mit unüberhörbar südhessischem Akzent.
Die Strapazen in Theresienstadt hat ihre Großmutter "als gebrochene Frau" überlebt. Der Großvater hingegen war bereits kurz nach der Ankunft im Jahr 1942 ermordet worden. "Wir haben nach dem Krieg mit unseren Eltern nie mehr darüber gesprochen", schildert die 82-Jährige. Norbert Bär habe immer insistiert: "Kind, lass es ruhen." Nur mit ihrer Schwester habe sie sich austauschen können. "Das war für uns beide sehr wichtig, denn psychologische Unterstützung gab es nicht." Sie kenne viele Überlebende des Holocaust, bei denen das Thema Zuhause totgeschwiegen wurde.
Bereitwillig beantwortet Edith Erbrich etliche Fragen aus dem Publikum, zum erneut unverhohlen auftretenden Antisemitismus möchte sie keine Stellung beziehen. "Ich äußere mich nicht politisch", betont sie. "Ich sage aber immer der Jugend: Haltet die Augen und Ohren offen, damit sich so etwas nicht wiederholt." Und: "Ihr seid die nächste Generation. An Euch liegt's jetzt."