Der Holocaust ist immer noch nah

Sandra Mowschowitz’ Großvater ist weit vor ihrer Geburt gestorben, sie kennt ihn nur von Fotos.Foto: Karl-Heinz Bärtl  Foto: Karl-Heinz Bärtl

Abraham Mowschowitz hat die deutsche Kriegsgefangenschaft überlebt, viele Konzentrationslager in Polen und Deutschland und einen Todesmarsch. Die Geburt seiner Enkelkinder hat...

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OBER-RAMSTADT. Abraham Mowschowitz hat die deutsche Kriegsgefangenschaft überlebt, viele Konzentrationslager in Polen und Deutschland und einen Todesmarsch. Die Geburt seiner Enkelkinder hat er aber nicht mehr erlebt. Mit nur 54 Jahren ist Mowschowitz 1971 an den gesundheitlichen Folgen des Holocaust gestorben. Sein Sohn war damals 17 Jahre alt und seine Enkelin, Sandra Mowschowitz, noch lange nicht geboren. Seit über einem Jahr betreibt Sandra Mowschowitz inzwischen Ahnenforschung, um den Leidensweg ihres Opas nachvollziehen zu können.

„Der Holocaust ist wahrscheinlich der Grund, weshalb ich ihn nie kennen lernen konnte“, sagt die 20-jährige Schülerin, die im März an der Georg-Christoph-Lichtenberg-Schule in Ober-Ramstadt ihr Abitur macht. Sie hat Hunderte von Arztberichten, Akten und Fotos durchgearbeitet. Vom ITS, ein Archiv und Dokumentationszentrum über NS-Verfolgung und befreite Überlebende in Arolsen, hat sie über 80 Seiten über ihren Großvater geschickt bekommen. Im Regierungspräsidium Darmstadt hat sich Mowschowitz durch 800 Seiten gewühlt. Auch die Konzentrationslager, in denen Abraham Mowschowitz war, hat sie um Dokumente gebeten. „Mein Vater hat nie darüber gesprochen – aber auch sein Vater, mein Opa, nicht“, sagt die Schülerin. Deshalb wusste niemand in der Familie, was Abraham Mowschowitz alles überlebt hat.

Nur 14 Tage nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs ist Abraham Mowschowitz in deutsche Kriegsgefangenschaft geraten, danach musste er in Arbeitslagern schuften. In einer Munitionsfabrik verletzte er sich so schwer am Bein, dass er bis zu seinem Tod hinkte. „Wenn er ins Krankenzimmer gegangen wäre, dann wäre das einem Todesurteil gleichgekommen“, sagt Mowschowitz. „Mein Opa hat nur überlebt, weil er jung war und arbeiten konnte.“ Ende 1944 kam er nach Deutschland ins KZ Buchenwald. Kurz vor der Befreiung, musste Abraham Mowschowitz nach Ravensbrück. Elf Tage ohne Verpflegung, eingepfercht in Viehwaggons und zu Fuß unterwegs – aber er überlebte den Todesmarsch. „Das hat mich total erschreckt, dass er zu dem Zeitpunkt in Buchenwald schon fast hätte gerettet werden können“, sagt die Enkelin.

Mit nur noch 40 Kilo konnte der damals 28-Jährige am 2. Mai gerade noch rechtzeitig befreit werden. Kurz nach dem Krieg kam er nach Darmstadt in ein Lager für ehemals verschleppte Menschen. 1954 heiratete er eine evangelische Darmstädterin. „Auch wenn ich meinen Opa nicht persönlich gekannt habe, geht mir die Geschichte sehr nahe“, sagt Mowschowitz. „Er hat so viel Schlimmes erlebt, manchmal wusste ich nicht, wie ich damit umgehen soll.“ Die Erfahrungen ihres Großvaters hätten noch heute einen großen Einfluss auf ihre Familie. „Den Leuten ist nicht klar, wie nah das Thema Holocaust noch ist.“

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Besuch am Grab des Opas

2017 hat sie das Grab ihres Opas auf dem jüdischen Friedhof in Darmstadt zum ersten Mal besucht. Zum Ende seines Lebens hatte er – auch aufgrund seiner Leidenszeit als junger Mann – Lungenprobleme, einen Herzinfarkt überstanden und einen Schlaganfall. Er war halbseitig gelähmt, antriebslos und vergesslich – mit 54 Jahren. „Ich bin es ihm einfach schuldig, mehr über seinen Lebensweg herauszufinden. Damit er nicht in Vergessenheit gerät“, sagt sie.

Von Marina Speer